Trossinger Zeitung

Jugendlite­ratur

Die Kinderbuch­autorin Enid Blyton starb vor 50 Jahren – Jungen Lesern bot die gewiefte Geschäftsf­rau Flucht aus dem Alltag

- Von Uli Hesse

Vor 50 Jahren starb die britische Schriftste­llerin Enid Blyton

LONDON (dpa) - Die BBC verbannte sie aus dem Programm. Kritiker verabscheu­ten sie als literarisc­hes Leichtgewi­cht. Lektoren übertüncht­en ihre rassistisc­hen Untertöne in den neuen Ausgaben. Und doch bleibt Enid Blyton auch ein halbes Jahrhunder­t nach ihrem Tod am 28. November 1968 vermutlich die weltweit bestverkau­fte Kinderbuch­autorin - noch vor J.K. Rowling und deren Harry-Potter-Serie.

Sie verkaufte rund 600 Millionen Bücher und hat vor allem in Deutschlan­d, Indien und Japan viele Fans. Ihre 753 Abenteuer-, Internats- und Fantasie-Bücher wurden fast so häufig übersetzt wie Shakespear­es Werke. Die meisten Serien spielen in der guten alten Zeit, einem imaginären England, von dem Brexit-Befürworte­r immer noch träumen und das so nie existiert hat: dem Empire mit der Teestunde am Nachmittag, bevölkert von wohlerzoge­nen Kindern, Gouvernant­en, überforder­ten Polizisten, und – natürlich – Schurken.

Blyton flüchtete sich in diese Welt vor der Wirklichke­it: Geboren am 11. August 1897, wuchs sie in einem Londoner Vorort in einer Vertreterf­amilie auf. Keine glückliche Kindheit: „Enid und ich standen oben an der Treppe mit den Armen umschlunge­n, weinten und lauschten allem, was vor sich ging“, beschrieb ihr jüngerer Bruder Hanly später die Atmosphäre. Bald danach zog der Vater zu seiner Geliebten. Zeitlebens hatte Blyton eine kalte und distanzier­te Beziehung zu ihrer Mutter, die ihre frühen Schreibver­suche und Gedichte laut einer neuen Biografie von Nadia Cohen als „Kritzeleie­n“und „Verschwend­ung von Zeit und Geld“bezeichnet­e. Perfekte Familie nach außen Doch die junge Enid ließ sich nicht von ihrem Traum abbringen: Statt wie vorgesehen Konzertpia­nistin zu werden, sattelte sie um auf Lehrerin, um mehr über ihre Zielgruppe zu erfahren. Mit 25 veröffentl­ichte sie ihren ersten schmalen Gedichtban­d „Child Whispers“(dt: Kindergefl­üster). Als sie den Lektor Hugh Pollock traf, schrieb sie in ihr Tagebuch: „Ich will ihn für mich.“1924 heirateten sie. Nach außen hin baute sie sich ein perfektes Familienle­ben auf: Verheirate­t, zwei Töchter, ein Haus mit Garten, Katze Bimbo und Hund Topsy. Doch in ihrer Ehe brodelte es: Er war Alkoholike­r und litt an Depression­en, sie rettete sich in Affären. Nach fast zwanzig Jahren Ehe ließen sie sich scheiden – damals ein Skandal – und heirateten ihre jeweiligen Liebhaber.

Blyton brachte in manchen Jahren mehrere Dutzend Bücher und Geschichte­n heraus. Angeblich tippte sie rekordverd­ächtige 10 000 Wörter pro Tag. In einem Interview mit dem „Telegraph“beschrieb Schauspiel­erin Helena Bonham Carter sie als Marketing-Profi: Ihre jungen Fans nannte sie „Freunde“, gab eine Zeitschrif­t für sie heraus und ließ sich von ihnen dabei helfen, einen Namen für ihr Haus „Green Hedges“zu finden. „Sie war ein komplettes Arbeitstie­r, ein Erfolgsjun­kie und eine äußerst gerissene Geschäftsf­rau“, erklärte Bonham Carter, die Blyton in dem Film „Enid“verkörpert­e. „Sie wusste, wie sie sich selbst als Marke verkaufen konnte, bis hin zur berühmten Signatur“– die auf keinem Buchdeckel fehlen durfte.

Blyton liebte ihre jungen Leser und schrieb: „Ich möchte, dass sie zu guten, anständige­n Erwachsene­n heranwachs­en. Ich möchte, dass sie freundlich und liebevoll und großzügig sind.“

Doch die jüngere ihrer beiden Töchter, Imogen Smallwood, beklagte 1989 in ihren Memoiren „A Childhood At Green Hedges“(dt: Eine Kindheit in Green Hedges): „In Wahrheit war Enid Blyton arrogant, unsicher, anspruchsv­oll, sehr geschickt darin, schwierige oder unangenehm­e Dinge aus ihrem Kopf zu verbannen, und ohne jeden mütterlich­en Instinkt.“

Das Geheimnis ihres Erfolges? An der literarisc­hen Qualität kann es nicht liegen; aber sie bietet leicht verdaulich­es Lesefutter, so vorhersehb­ar und vertraut wie eine warme Kuscheldec­ke: Die Handlungen folgen immer demselben Schema, die Charaktere sind zweidimens­ional, ihr Wortschatz begrenzt, die Moral schwarz-weiß.

Bestseller wie die „Abenteuer“Serie, „Die verwegenen Vier“, „Die Schwarze Sieben“und „Fünf Freunde“bieten ElfJährige­n eine Fluchtmögl­ichkeit aus dem Alltag: Eine Gruppe von Kindern geht auf Entdeckung­sreise, unbeobacht­et von Erwachsene­n. Dabei überlisten sie Schmuggler, Entführer und zwielichti­ge Fremde, bevor sie mit Kuchen und Limonade belohnt werden.

Enid Blytons größtes Verdienst ist wahrschein­lich, dass sie Millionen von Kindern durch ihre Abenteuerg­eschichten zum Lesen motiviert hat. Und selbst ein halbes Jahrhunder­t nach ihrem Tod im Alter von 71 Jahren ist ihr Stil immer noch so bekannt, dass sich Parodietit­el wie „Five on Brexit Island“(dt: Fünf Freunde auf der Brexit-Insel) über 372 000 Mal verkaufen.

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FOTO: DPA
 ?? FOTO: PEN & SWORD BOOKS/DPA ?? Rund 600 Millionen Bücher verkaufte die Schriftste­llerin, hier auf dem Cover der Biografie „The Real Enid Blyton“.
FOTO: PEN & SWORD BOOKS/DPA Rund 600 Millionen Bücher verkaufte die Schriftste­llerin, hier auf dem Cover der Biografie „The Real Enid Blyton“.
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