Im Zweifel für den Angeklagten
Freispruch im Entführungsfall Würth – „Stimme ist kein Fingerabdruck“
GIESSEN (lsw) - Nach seinem Freispruch kommen dem Angeklagten im großen Saal des Gießener Landgerichts die Tränen. Der 48-Jährige wischt sich die Augen, während der Vorsitzende Richter das Urteil begründet. Auch nach der Befragung zahlreicher Zeugen und der Präsentation eines ungewöhnlichen Stimmgutachtens bleiben aus Sicht des Gerichts Zweifel, dass der Angeklagte an der Entführung des behinderten Sohnes von „Schraubenkönig“Reinhold Würth beteiligt war. „Deswegen war er freizusprechen.“
Er habe daran geglaubt, dass es in Deutschland Gerechtigkeit gebe, sagt der aus Serbien stammende Angeklagte nach dem Urteil. Der Mann spricht leise und mit deutlichem Akzent – was im Prozess eine wichtige Rolle gespielt hat. Denn die Staatsanwaltschaft stützte ihre Anklage gegen den 48-Jährigen insbesondere auf die Analyse seiner Stimme.
Der damals 50 jahre alte Markus Würth wurde im Juni 2015 aus einer integrativen Wohngemeinschaft im osthessischen Schlitz entführt. Ein Erpresser forderte am Telefon von der Unternehmerfamilie drei Millionen Euro Lösegeld. Die Übergabe scheiterte und der Anrufer verriet daraufhin das Versteck des Opfers. Markus Würth wurde nahezu unversehrt an einen Baum gekettet bei Würzburg gefunden. Die Anklage geht von mehreren Tätern aus.
Der geistig behinderte Mann sei ein hilfloses Opfer gewesen, sagt der Richter. Und ein Opfer, das wegen seiner Behinderung keine Angaben zu der Entführung machen könne. Umso mehr war das Gericht auf Indizien angewiesen. Dazu gehörte vor allem die aufgezeichnete Stimme des Lösegelderpressers. Experten der Uni Marburg hatten den Telefonmitschnitt analysiert und fanden heraus, dass die Stimme des Anrufers und die des Angeklagten „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“identisch seien. Der Richter lobte zwar die „akkurate“Arbeit. Doch allein auf das Stimmgutachten wollte er eine Verurteilung nicht stützen – ihm fehlten weitere eindeutige Indizien.
Ein Stimmgutachten müsse bei der Identifizierung von Verdächtigen zwangsläufig an seine Grenzen kommen, führt der Vorsitzende aus. Denn eine Stimme sei kein Fingerabdruck und keine Genspur, die eindeutige Zuordnungen ermögliche. „Sprache ist nicht statisch wie DNA, sondern etwas, das ständiger Veränderung unterliegt.“Auch wenn die Stimme des Angeklagten wie die des Erpressers klinge, sei nicht ausgeschlossen, dass andere Personen ebenfalls so redeten.
Die Staatsanwaltschaft will Revision einlegen und den Bundesgerichtshof in Karlsruhe anrufen. Man brauche eine obergerichtliche Entscheidung, „um Klarheit zu bekommen, wie derartige Beweismittel in Zukunft zu bewerten sind“.