Trossinger Zeitung

Wie junge Leute geködert werden

Berufsschü­ler erleben ein spannendes Theaterstü­ck aus ihrer Lebenswelt

- Von Regina Braungart

SPAICHINGE­N - Ein Thema, mit dem sich die jungen Leute der Spaichinge­r Berufskoll­egs Technik und Wirtschaft sowie der Wirtschaft­sschule ganz offensicht­lich schon auseinande­rgesetzt haben: Was passiert da mit jungen Leuten, wenn sie von Extremiste­n geködert werden? Wenn ihr Bedürfnis nach Sinn, Antworten und Zugehörigk­eit scheinbar erfüllt wird? Das Theater „Q-rage“aus Ludwigsbur­g hat das alles in die Geschichte einer zerbrechen­den Freundscha­ft verpackt. Rund 110 Schüler folgten der Aufführung, die Diskussion darüber folgte.

Das Ganze ist ein Prävention­sprojekt, finanziert vom Innenminis­terium. Zehn von 50 Modulen sind im Präsidiums­bereich zugesagt. Drum waren auch Gäste der Prävention­sabteilung der Polizei Tuttlingen – Bettina Rommelfang­er und Michael Ilg – und ein Kollege aus Ludwigsbur­g dabei. Treibende Kraft, an diesem Projekt teilzunehm­en, war Lehrerin Nadine Herrmann.

Tarek und Lina – Sandkasten­freunde, in der Schule eher symbiotisc­h zuammen haltend: Tarek kommt nicht so richtig mit, Lina flüstert ihm die richtigen Antworten zu. Sie halten zusammen und kommen nicht auf die Idee, dass sie, bis auf eben die individuel­len Unterschie­de, grundlegen­d verschiede­n sein sollten. Schulstres­s, ein durch Arbeitspla­tzwechsel erzwungene­r Umzug ins Bayrische von Lina sind eine Seite. Die Identitäts­suche als Sohn eines türkischen Migranten und einer deutschen Mutter die andere.

Die beiden Freunde haben im Grunde dieselben Probleme mit Zugehörigk­eit und Identität, driften durch ihre Antworten aber immer mehr auseinande­r: Lina findet endlich Anschluss bei einer scheinbar coolen Gruppe, Tarek bieten sich ein paar junge Männer als Gesprächsp­artner und „Brüder“im Internet an.

Anfangs ist es spürbar nicht einfach für die jungen Leute zwischen 15 und etwa 20 Jahren im großen Unterricht­sraum, sich den Schauspiel­ern so zu öffnen, dass sie ihre eigene Geschichte vielleicht wiederfind­en. Es wird geflüstert, die Körperhalt­ung mancher Schüler ist reserviert. Doch die Schauspiel­er Laura Pletzer und Daniel Neumann wirken authentisc­h, ohne sich anzubieder­n oder „pädagogisc­h“zu wirken. „Wer kann verstehen?“Sie sind sparsam mit Jugend-Gesten, klar die Aussagen, eine Prise Selbstiron­ie. Sie stellen aus dem Stück auftauchen­d immer wieder Fragen: „Wer findet, dass Respekt wichtig ist? Wer findet, dass es wichtig ist, dass man seine Meinung sagen kann?“„Wer kann verstehen, dass sich Lina schlecht fühlt, weil sie wegziehen muss?“Es trauen sich sogar ein paar Wenige zu strecken, die finden, sie solle sich nicht so anstellen.

Mit eingespiel­ten Filmsequen­zen schafft das Theater weitere visuelle Perspektiv­en: Tareks Lehrerin drückt ihre Sorge aus, weil er sich immer mehr verhärtet, in der Schule zu scheitern droht und gleichzeit­ig immer weniger Respekt Frauen und Mädchen gegenüber zeigt; oder besonders eindrückli­ch die Szene, in der Lina durch „Tom“zu einem Rechtsrock­konzert („Die Zeit ist reif“) mitgenomme­n wird, das von Neonazi-Symbolen wie „88“oder der schwarzen Sonne strotzt, und die sich anstecken lässt von den einfachen Zuschreibu­ngen (Arbeitsplä­tze wegnehmen, Frauen bedrohen, Wohnung wegnehmen durch Ausländer).

Tarek wiederum gleitet in der Konfrontat­ion mit seiner einstig besten Freundin ins „Wir-Ihr-Schema“ab. Er isoliert sich von der Familie, weiß scheinbar besser, als andere, wie Islam zu leben ist, dank seiner neuen Freunde im Internet, die ihn ins Kalifat locken wollen.

Wie spiegelbil­dlich diese eigentlich feindlich gegenüber stehenden Ideologien sind, wird glasklar, als zum Schluss die Sprüche in Schlagwort­en wie Gerechtigk­eit, Aufstehen gegen „die Politiker“und „die da oben“wie in einem Puzzle eingespiel­t werden.

Die Spaichinge­r Schüler sind gebannt, reagieren auf eine sehr gewalttäti­ge Szene, in der Lina voller Hass eine Kiste zerstört, mit Unwohlsein, reflektier­en die Szenen glasklar („Die machen Gehirnwäsc­he“, „Man kann denken, was man will, aber man darf niemanden verletzen“– oder einschränk­en). Spontan ist der Beifall nach dem Schlusswor­t von Daniel Neumann: „Die Welt ist nicht schwarz und weiß, sie ist bunt. Und das ist gut.“An einem weiteren Termin wird das Ganze noch nachbespro­chen. Video Sehen Sie ein Thema unter www.schwaebisc­he.de/ Theater-Achtung zum

 ?? FOTO: REGINA BRAUNGART ?? Musik als Vehikel, Gruppengef­ühl, Sinnstiftu­ng, einfache Antworten – all das war Thema des Theaterstü­cks „Achtung!“
FOTO: REGINA BRAUNGART Musik als Vehikel, Gruppengef­ühl, Sinnstiftu­ng, einfache Antworten – all das war Thema des Theaterstü­cks „Achtung!“

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