Es kann nur einen geben
Der echte Nikolaus wehrt sich gegen Verwechslungen mit dem Weihnachtsmann – und nimmt Knecht Ruprecht in Schutz
Ob er wirklich weiß, was ich letzten Sommer getan habe? Die Sache mit dem Papier und den Streichhölzern. Mit dem Nachbarn, der fast die Feuerwehr gerufen hätte, weil er wirklich geglaubt hat, es brennt auf unserem Balkon. Weiß der Nikolaus jeden Streich? Und steht das alles da drin in seinem goldenen Buch? Und wenn er es sowieso weiß, warum braucht er dann überhaupt noch ein Buch, wo es dann noch mal drinnen steht?
Für ein Kindergartenkind der 1970er-Jahre ist der Nikolaustag eine komplizierte Sache mit vielen ungeklärten Fragen. Die anderen Kinder in der Zwergengruppe reagieren ganz unterschiedlich. Da gibt es die Angeber, die frech behaupten: „Pahh – vor dem hab’ ich keine Angst. Der Knecht Ruprecht, der soll bloß kommen!“Und es gibt die zarteren Naturen, die seit dem Tag, als das Fräulein Barbara – so nennen die Eltern eine der Erzieherinnen – angekündigt hat, dass der Nikolaus und sein Helfer kommen werden, nicht mehr richtig geschlafen haben. Die auf Tauchstation im Kuscheltierberg gehen, wenn sie das N-Wort auch nur hören.
Kein Zweifel: 2018 hat mit den 1970er-Jahren nicht mehr viel zu tun. In der Gegenwart kann es schon mal passieren, dass ein rot-weiß gewandeter Mann mit wasserstoffblondem Kunstfaserbart bereits im November auftaucht. Zuerst auf Schachteln und Verpackungen. Dann in Alufolie gewickelt. Wobei inzwischen die wenigsten in Schokolade gegossenen Männlein den Heiligen Nikolaus zeigen. Denn der käme ohne religiöse Symbole wie Bischofsmütze, Bischofsstab oder Kreuz unmöglich aus. Ein Umstand, der auf dem globalen Markt der schokoladigen Hohlkörper nicht ganz unwichtig ist. Denn der Weihnachtsmann für China oder jedes andere nicht christlich geprägte Land muss nicht nur konfessionslos – er muss sogar frei von jedwedem religiösen weil womöglich missionarischem Charakter sein. Rentierschlitten Fehlanzeige Erich Wölk aus Friedrichshafen mag den Weihnachtsmann nicht besonders. Sein Verhältnis zu ihm ist klar: Genauso, wie Naturschützer das eingeschleppte amerikanische graue Eichhörnchen hier bei uns ablehnen, weil es nach und nach das rote hier heimische Eichhörnchen verdrängt, verdrängt der vielerorts zum reinen Werbemaskottchen verkommene Weihnachtsmann amerikanischer Prägung den Heiligen Nikolaus, der als Bischof von Myra in der heutigen Türkei vor etwa 1750 Jahren gelebt hat. Wölk sagt: „Ich möchte nicht mit der Cola trinkenden Coca-Cola-Werbefigur mit Zipfelmütze verwechselt werden.“Es ärgere ihn dann schon ein bisschen, wenn die Kinder ihn am Nikolaustag in Wohnungen mit Zentralheizung fragen, wie er denn durch den Kamin gekommen sei. Und ob die Rentiere unten im Hof stünden. „Dann sag‘ ich immer: Der Nikolaus geht durch die Türe und kommt – je nach Entfernung – natürlich mit dem Auto.“Klare Ansage.
„Das mit dem Weihnachtsmann, was die da machen, das geht gar nicht“, bekräftigt Wölk, obwohl er es nach dem Prinzip leben und leben lassen betrachtet. Er und seine Kollegen seien aber nunmal Bischöfe mit einer Botschaft und keine Typen mit Zipfelmützen. Aber eigentlich hat Erich Wölk gar keine Zeit für Interviews. Denn schließlich ist Nikolauszeit. „Alles komplett ausgebucht.“Jene Zeit, in der er und seine Mitstreiter von der Nikolausgilde Friedrichshafen alle Hände voll zu tun haben, mit ihrer Mission, den Kindern des Jahres 2018 die tiefere Bedeutung und den Sinn hinter St. Nikolaus zu erschließen. „Und ja, da gehört auch der Knecht Ruprecht natürlich dazu“, sagt Wölk, der vor etwa 40 Jahren zum ersten Mal das Gewand des Nikolaus angezogen hat – davor, mit etwas über 18 – hat Wölk als Knecht Ruprecht angefangen.
Apropos Knecht Ruprecht: Auch für die Knirpse des Kindergartens der 1970er-Jahre ist dieser Mann eine geheimnisvolle und angstbehaftete Figur. Als die Tür des großen Saals aufgeht, ist es im Kindergarten so still wie sonst nie. Die Großmäuler sind verstummt, die ängstlichen Naturen halten den Atem an, manche wimmern leise. Fräulein Barbara hält die Tür auf. Überall im Raum brennen Kerzen, kleine schwitzige Hände zupfen nervös an Kuscheltierohren, an denen sich nicht wenige festklammern, als neben dem guten Nikolaus der Knecht Ruprecht in finsteren Klamotten und noch finstererem Bart polternd eintritt. Den Luftzug der wedelnden Rute spüren die Kinder der ersten Reihe, die im Schneidersitz auf dem Boden hocken. Dann klappt der Nikolaus sein goldenes
„Der Knecht Ruprecht steht für schwarze Pädagogik. Das lehnen wir natürlich ab.“Kindergärtnerin, die anonym bleiben möchte
Buch auf. Hie und da hört man ein trockenes Schlucken, als der Bischof die ersten Seiten aufschlägt.
Erich Wölk kann nicht verstehen, warum der Knecht Ruprecht einen so schlechten Ruf hat. Schließlich sei er ja nur ein Gehilfe vom heiligen Mann. „Der Bischof hat nicht genug Platz in den Hosentaschen. Da ist doch klar, dass noch einer mithelfen muss.“Ruprecht sei ein Schaffer, in den großen Sack gehe einiges hinein. Kein Grund zur Panik. „Da sind ja nur gute Sachen für die Kinder drin.“Die Rute komme daher, weil der Knecht Ruprecht den St. Nikolaus schließlich gegen mögliche Angriffe verteidigen müsse. Die Geschichte des Krampus ist aus Sicht von Wölk also eine Geschichte voller Missverständnisse. Das aber habe sich in pädagogischen Kreisen noch nicht so ganz herumgesprochen. Geht es um Besuche in Kindergärten oder Grundschulen von heute, so müsse er sich meistens allein auf den Weg machen. „Der Knecht Ruprecht wird da nicht so geduldet“, sagt Wölk mit Unverständnis in der Stimme.
Anruf in einem Kindergarten im Bodenseekreis, am Apparat die Leiterin: „Wissen Sie, der Knecht Ruprecht steht für schwarze Pädagogik. Das lehnen wir natürlich ab.“Genauso wie es die Dame ablehnt, namentlich in der Zeitung zitiert zu werden. Das Reden über Knecht Ruprecht scheint in der Gegenwart von 2018 ein Tabu zu sein. „Die Eltern wollen das auch nicht“, sagt die Pädagogin. Gute Taten zu belohnen und schlechte zu bestrafen, sei heute ein fragwürdiger Ansatz. Ruprecht stehe für Gewalt und Gewalt gehe nun mal gar nicht.
„In private Haushalte komme ich nur mit Knecht Ruprecht zusammen. Ohne – das fangen wir gar nicht erst an. Da lasse ich mich auch auf nichts ein.“Viel Zeit investieren er und seine Kollegen, die aus triftigen Gründen auch noch später im Dezember kommen, etwa wenn Leute wegen Krankheit oder Urlaub um den eigentlichen Nikolaustag herum verhindert sind. „Übrigens – das ist ganz wichtig – sind wir komplett ehrenamtlich untwerwegs.“Mit Rent-aNikolaus habe das nichts zu tun. „Wir sammeln ja Spenden, der Erlös ist für verschiedene Zwecke. Die Leute geben, was sie möchten.“Im Schnitt sind es 20 Euro. „Aber Leute, die wenig oder gar nichts geben, weil sie das Geld nicht haben, besuchen wir trotzdem.“ Alles halb so schlimm Am Ende – damals im Kindergarten der 1970er-Jahre – stellt sich heraus, dass das, was Nikolaus Wölk aus Friedrichshafen 40 Jahre später sagen wird, stimmt: Der Knecht Ruprecht hat keines der Kinder gefressen. Aus seinem Sack hat er jede Menge Nüsse, Schokolade und kleine Spielsachen verteilt. Und außerdem scheint der gute, liebe Nikolaus auch nicht alles zu wissen – oder er kann ein Geheimnis für sich behalten. Denn aus dem Buch hat er nichts vorgelesen, was mit dem letzten Sommer zu tun hatte. Dem Papier, den Streichhölzern und dem Nachbarn, der um ein Haar die Feuerwehr geholt hätte.
Ein Quiz rund um den Nikolaus finden Sie online unter: www.schwäbische.de/nikolaus