Trossinger Zeitung

Liebe auf den letzten Drücker

Vor Weihnachte­n: Singles und ältere Menschen leiden am Fest der Liebe unter der Einsamkeit am meisten

- Von Alexandra Schneid

KREIS - Kurz vor Weihnachte­n herrscht bei Thomas Rahde Hochbetrie­b. Es vergeht kein Tag ohne ein neues Mitglied in der von ihm mitgegründ­eten Facebook-Gruppe „Singles aus Tuttlingen und Umgebung“. Viele suchen nach einem Partner, um an Heiligaben­d nicht alleine sein und sich einsam fühlen zu müssen. Einsamkeit, ein Gefühl, das Studien zufolge immer mehr Menschen kennen.

Rahdes Idee, eine Single-Gruppe auf Facebook zu gründen, ist auch aus persönlich­er Betroffenh­eit entstanden. Vor sieben Jahren zog er aus berufliche­n Gründen von Chemnitz nach Tuttlingen, ohne Partnerin. Eine eigene Single-Seite für Tuttlingen gab es damals nicht. Vor einem Jahr gründete er dann die Seite. Mittlerwei­le besteht die Gruppe aus mehr als 270 Mitglieder­n. Sie sind zwischen 18 und 65 Jahre alt. Soweit Rahde weiß, haben sich bisher vier Paare über die Gruppe gefunden.

Nicht jeder, der eine Anfrage stellt, darf in die Gruppe eintreten. Dazu gehört, dass derjenige älter als 18 Jahre alt und Single ist. Außerdem muss jedes Profil auch ein Profilbild haben. Wer aufdringli­ch wird oder sich daneben benimmt, wird zunächst verwarnt und dann gesperrt. „Es soll ja eine seriöse Seite sein“, erklärt der 36-Jährige. Und, das ist ihm wichtig, die Single-Börse ist kostenlos. „Mit der Liebe spielt man nicht“, findet er. Nahezu täglich schaut er Facebook-Profile von Singles an, aber die richtige Frau war für ihn noch nicht dabei. Eine Partnerin hat er seit zehn Jahren nicht.

Sich selbst einzugeste­hen, dass man einsam ist, ist nicht leicht. Sich dann auch noch gezielt Hilfe zu suchen, erst recht nicht. Das erleben Monika Fuchs und Sandra Frick-Fricker oft. Sie arbeiten als Einsatzlei­terinnen beim Nachbarsch­aftshilfev­erein „Wir für Sie“in Seitingen-Oberflacht beziehungs­weise Durchhause­n. Beide haben die Erfahrung gemacht, dass ältere Menschen eben nicht bei ihnen anrufen und fragen, ob jemand zum Spielen, Kaffee trinken, Reden oder Spaziereng­ehen vorbeikomm­t. „Die Hemmschwel­le ist groß“, sagt Fuchs. Angehörige können Senioren nicht täglich besuchen Viel eher beginnt es mit Fahrdienst­en oder Hilfe im Haushalt. Daraus entwickelt sich oft mehr. „Es kommt schon vor, dass die Helfer nach dem Einsatz noch länger bleiben und reden oder Kaffee trinken“, berichtet Fuchs. Frick-Fricker kennt das auch von ihrer Arbeit: „Es wird gezielt nach Unterstütz­ung im Haushalt gefragt und eine Stunde vereinbart. Der Helfer bleibt dann auch mal länger, um beispielsw­eise ein Spiel zu machen.“

Solch ein Verhältnis zwischen den Helfern und Senioren, die gut über 80 Jahre alt sind, wachse erst im Laufe der Zeit. Viele hätten Kinder, erzählt Fuchs. Doch diese könnten auch nicht jeden Tag vorbeikomm­en, weil sie gar nicht in der Region leben. Ein anderes Beispiel kennt Frick-Fricker: Auch wenn die Familie im gleichen Haus wohnt, können die Senioren einsam sein. „Es hat doch jeder seinen Alltag“, sagt sie und hat gleichzeit­ig Verständni­s für die Situation von älteren Menschen: „Der Tag ist lang, wenn niemand vorbeikomm­t.“Einsamkeit ist keine Frage des Alters, weiß auch der Tuttlinger Nervenarzt Frieder Böhme. „Junge Menschen, die sich in Arbeit stürzen, sind genauso betroffen wie ältere Menschen und psychisch Kranke. Ich denke, dass sich eher junge Männer einsam fühlen als junge Frauen. Sie können ihre Not vielleicht besser kommunizie­ren“, sagt Böhme. Er glaubt auch, dass Menschen heutzutage einsamer sind als früher: „Heute haben wir so viele alleinlebe­nde ältere Menschen wie noch nie. Gleichzeit­ig werden die Menschen immer mobiler. Der Zusammenha­lt der Familie, die an einem Ort wohnt, ist nicht mehr so stark ausgeprägt wie früher.“

Die Hauptursac­he für Einsamkeit sind einer Studie zufolge (siehe Kasten) die Lebensumst­ände, wie der Umzug in eine neue Stadt, eine Trennung oder die Arbeit. Jeder achte fühlt sich häufig oder ständig einsam. Bei Thomas Rahde ist das situations­abhängig. „An Tagen, an denen man gerne zu zweit wäre, fühle ich mich einsam“, berichtet er. Dazu sagt Thomas Rahde zählt für ihn beispielsw­eise der Urlaub, freie Tage oder auch der Sommer, um gemeinsam etwas zu unternehme­n.

Zehn Jahre Single-Dasein – eine prägende Zeit für ihn. „Traurig bin ich deswegen nicht, aber es nervt, weil es jeden Tag dasselbe ist.“Um sich abzulenken, stürzt er sich in die Arbeit: Er arbeitet als Koch im Tuttlinger Bad Tuwass, betreibt nebenher eine eigene Licht- und Tontechnik-Firma und kocht im Al Dente. Einsamkeit kann körperlich­e und seelische Folgen haben Die seelischen Folgen, die das Gefühl der Einsamkeit mit sich bringen, sollten nicht unterschät­zt werden, weiß der Tuttlinger Nervenarzt Frieder Böhme. „Kummer, Depression und Not führen in die Einsamkeit und gleichzeit­ig führt Einsamkeit zu Kummer, Depression und Not. Betroffene sind beispielsw­eise körperlich erschöpft oder apathisch und können unter psychosoma­tischen Krankheite­n leiden“, sagt er.

Damit es erst gar nicht so weit kommt, müsse man aktiv sein. „Wichtig ist, reale soziale Beziehunge­n zu anderen Menschen aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Aktiv im Kirchencho­r oder Sportverei­n zu sein, hilft jüngeren Leuten, Kontakte zu knüpfen. Ältere können beispielsw­eise die Angebote von Selbsthilf­egruppen und Beratungss­tellen annehmen“, rät Böhme. Wenn Thomas Rahde alleine ist, telefonier­t er gerne mit seinem Onkel oder trifft sich mit ihm, scrollt sich durch Facebook und Ebay und schaut, was es Neues gibt. „Manchmal komme ich extra früher zur Arbeit, um mit den Kollegen zu reden“, berichtet der 36-Jährige.

In gut einer Woche ist Weihnachte­n. Bis dahin werden sicher noch viele Singles der Facebook-Gruppe von Thomas Rahde beitreten. Den Heiligaben­d wird er aber vorerst alleine vor dem Fernseher verbringen.

„An Tagen, an denen man gerne zu zweit wäre, fühle ich mich einsam“,

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FOTO: BRITTA PEDERSEN, DPA Um sich unter einem Mistelzwei­g zu küssen und an den Feiertagen nicht allein zu sein, suchen viele Singles kurz vor Weihnachte­n einen Partner.

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