Liebe auf den letzten Drücker
Vor Weihnachten: Singles und ältere Menschen leiden am Fest der Liebe unter der Einsamkeit am meisten
KREIS - Kurz vor Weihnachten herrscht bei Thomas Rahde Hochbetrieb. Es vergeht kein Tag ohne ein neues Mitglied in der von ihm mitgegründeten Facebook-Gruppe „Singles aus Tuttlingen und Umgebung“. Viele suchen nach einem Partner, um an Heiligabend nicht alleine sein und sich einsam fühlen zu müssen. Einsamkeit, ein Gefühl, das Studien zufolge immer mehr Menschen kennen.
Rahdes Idee, eine Single-Gruppe auf Facebook zu gründen, ist auch aus persönlicher Betroffenheit entstanden. Vor sieben Jahren zog er aus beruflichen Gründen von Chemnitz nach Tuttlingen, ohne Partnerin. Eine eigene Single-Seite für Tuttlingen gab es damals nicht. Vor einem Jahr gründete er dann die Seite. Mittlerweile besteht die Gruppe aus mehr als 270 Mitgliedern. Sie sind zwischen 18 und 65 Jahre alt. Soweit Rahde weiß, haben sich bisher vier Paare über die Gruppe gefunden.
Nicht jeder, der eine Anfrage stellt, darf in die Gruppe eintreten. Dazu gehört, dass derjenige älter als 18 Jahre alt und Single ist. Außerdem muss jedes Profil auch ein Profilbild haben. Wer aufdringlich wird oder sich daneben benimmt, wird zunächst verwarnt und dann gesperrt. „Es soll ja eine seriöse Seite sein“, erklärt der 36-Jährige. Und, das ist ihm wichtig, die Single-Börse ist kostenlos. „Mit der Liebe spielt man nicht“, findet er. Nahezu täglich schaut er Facebook-Profile von Singles an, aber die richtige Frau war für ihn noch nicht dabei. Eine Partnerin hat er seit zehn Jahren nicht.
Sich selbst einzugestehen, dass man einsam ist, ist nicht leicht. Sich dann auch noch gezielt Hilfe zu suchen, erst recht nicht. Das erleben Monika Fuchs und Sandra Frick-Fricker oft. Sie arbeiten als Einsatzleiterinnen beim Nachbarschaftshilfeverein „Wir für Sie“in Seitingen-Oberflacht beziehungsweise Durchhausen. Beide haben die Erfahrung gemacht, dass ältere Menschen eben nicht bei ihnen anrufen und fragen, ob jemand zum Spielen, Kaffee trinken, Reden oder Spazierengehen vorbeikommt. „Die Hemmschwelle ist groß“, sagt Fuchs. Angehörige können Senioren nicht täglich besuchen Viel eher beginnt es mit Fahrdiensten oder Hilfe im Haushalt. Daraus entwickelt sich oft mehr. „Es kommt schon vor, dass die Helfer nach dem Einsatz noch länger bleiben und reden oder Kaffee trinken“, berichtet Fuchs. Frick-Fricker kennt das auch von ihrer Arbeit: „Es wird gezielt nach Unterstützung im Haushalt gefragt und eine Stunde vereinbart. Der Helfer bleibt dann auch mal länger, um beispielsweise ein Spiel zu machen.“
Solch ein Verhältnis zwischen den Helfern und Senioren, die gut über 80 Jahre alt sind, wachse erst im Laufe der Zeit. Viele hätten Kinder, erzählt Fuchs. Doch diese könnten auch nicht jeden Tag vorbeikommen, weil sie gar nicht in der Region leben. Ein anderes Beispiel kennt Frick-Fricker: Auch wenn die Familie im gleichen Haus wohnt, können die Senioren einsam sein. „Es hat doch jeder seinen Alltag“, sagt sie und hat gleichzeitig Verständnis für die Situation von älteren Menschen: „Der Tag ist lang, wenn niemand vorbeikommt.“Einsamkeit ist keine Frage des Alters, weiß auch der Tuttlinger Nervenarzt Frieder Böhme. „Junge Menschen, die sich in Arbeit stürzen, sind genauso betroffen wie ältere Menschen und psychisch Kranke. Ich denke, dass sich eher junge Männer einsam fühlen als junge Frauen. Sie können ihre Not vielleicht besser kommunizieren“, sagt Böhme. Er glaubt auch, dass Menschen heutzutage einsamer sind als früher: „Heute haben wir so viele alleinlebende ältere Menschen wie noch nie. Gleichzeitig werden die Menschen immer mobiler. Der Zusammenhalt der Familie, die an einem Ort wohnt, ist nicht mehr so stark ausgeprägt wie früher.“
Die Hauptursache für Einsamkeit sind einer Studie zufolge (siehe Kasten) die Lebensumstände, wie der Umzug in eine neue Stadt, eine Trennung oder die Arbeit. Jeder achte fühlt sich häufig oder ständig einsam. Bei Thomas Rahde ist das situationsabhängig. „An Tagen, an denen man gerne zu zweit wäre, fühle ich mich einsam“, berichtet er. Dazu sagt Thomas Rahde zählt für ihn beispielsweise der Urlaub, freie Tage oder auch der Sommer, um gemeinsam etwas zu unternehmen.
Zehn Jahre Single-Dasein – eine prägende Zeit für ihn. „Traurig bin ich deswegen nicht, aber es nervt, weil es jeden Tag dasselbe ist.“Um sich abzulenken, stürzt er sich in die Arbeit: Er arbeitet als Koch im Tuttlinger Bad Tuwass, betreibt nebenher eine eigene Licht- und Tontechnik-Firma und kocht im Al Dente. Einsamkeit kann körperliche und seelische Folgen haben Die seelischen Folgen, die das Gefühl der Einsamkeit mit sich bringen, sollten nicht unterschätzt werden, weiß der Tuttlinger Nervenarzt Frieder Böhme. „Kummer, Depression und Not führen in die Einsamkeit und gleichzeitig führt Einsamkeit zu Kummer, Depression und Not. Betroffene sind beispielsweise körperlich erschöpft oder apathisch und können unter psychosomatischen Krankheiten leiden“, sagt er.
Damit es erst gar nicht so weit kommt, müsse man aktiv sein. „Wichtig ist, reale soziale Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und aufrecht zu erhalten. Aktiv im Kirchenchor oder Sportverein zu sein, hilft jüngeren Leuten, Kontakte zu knüpfen. Ältere können beispielsweise die Angebote von Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen annehmen“, rät Böhme. Wenn Thomas Rahde alleine ist, telefoniert er gerne mit seinem Onkel oder trifft sich mit ihm, scrollt sich durch Facebook und Ebay und schaut, was es Neues gibt. „Manchmal komme ich extra früher zur Arbeit, um mit den Kollegen zu reden“, berichtet der 36-Jährige.
In gut einer Woche ist Weihnachten. Bis dahin werden sicher noch viele Singles der Facebook-Gruppe von Thomas Rahde beitreten. Den Heiligabend wird er aber vorerst alleine vor dem Fernseher verbringen.
„An Tagen, an denen man gerne zu zweit wäre, fühle ich mich einsam“,