May streitet öffentlich mit Blair über Brexit
Britische Regierungschefin weist Forderungen nach einer neuen Volksabstimmung zurück – Überparteiliche Einigkeit in Irland
LONDON - Zwischen der britischen Regierungschefin Theresa May und ihrem Amtsvorgänger Tony Blair ist ein außergewöhnlicher öffentlicher Streit um den Brexit ausgebrochen. Blairs Forderung nach einem zweiten Referendum sei „eine Beleidigung des Amtes, dass er einst bekleidete und des Volkes, dem er einst diente“, erklärte May.
Der Ex-Regierungschef der Labour-Partei antwortete seiner konservativen Nachfolgerin prompt: Es sei „unverantwortlich“, die Abgeordneten des britischen Unterhauses dazu zwingen zu wollen, das mit der EU ausgehandelte Brexit-Abkommen anzunehmen. „Vernünftig wäre es, das Parlament über alle angebotenen Formen des Brexit abstimmen zu lassen“, erklärte Blair, von 1997 bis 2007 britischer Regierungschef. Sollten sich die Abgeordneten nicht einigen können, sei es „logisch“, erneut das Volk zu befragen, bekräftigte Blair seine Forderung nach einem erneuten Referendum. Die Premierministerin kritisierte Blair scharf dafür, „unsere Verhandlungen zu untergraben“.
Trotz wachsender Ängste vor einem chaotischen Brexit bleibt May bei ihrem Kurs und weist Forderungen nach einer neuen Volksabstimmung zurück. „Das Parlament hat die demokratische Pflicht, das umzusetzen, wofür das britische Volk gestimmt hat“, erklärte May nach britischen Medienberichten vom Sonntag. Wie May ihren Brexit-Vertrag mit der Europäischen Union retten will, ist jedoch offen. Die britische Opposition verlangt ein Parlamentsvotum noch vor Weihnachten.
Während in London der BrexitZwist weiterschwelte, herrscht in Dublin überparteiliche Einigkeit zur Vorgehensweise gegenüber dem größeren Nachbarn. Mit Blick auf das nationale Interesse hatte die größte Oppositionspartei der Minderheitsregierung von Premier Leo Varadkar weitere Duldung bis zum Frühjahr 2020 zugesagt. „Wir werden nicht zulassen, dass hier ähnliches Chaos herrscht wie in Westminster“, sagte der Vorsitzende von Fianna Fáil (FF), Oppositionsführer Micheál Martin, zur Begründung. Varadkar ohne Mehrheit Wie im Unterhaus Theresa May, deren Kabinett bisher von der nordirischen Unionistenpartei DUP unterstützt wird, muss im Parlament Varadkar ohne Mehrheit lavieren. Die Regierung setzt sich seit der letzten Wahl 2016 aus seiner konservativen Partei Fine Gael (FG) und zwei Gruppen unabhängiger Abgeordneter zusammen.
Deren Duldung durch FF geschieht nicht ganz aus uneigennützigen Motiven. Martin selbst gehörte 14 Jahre lang bis 2011 einer FF-Regierung an, zuletzt als Außenminister. Eine Wahlniederlage würde wohl sein politisches Ende bedeuten. In Umfragen liegt die nationalliberale Partei deutlich hinter FG, muss sich zudem gegenüber der linksnationalen Republikanerpartei Sinn Féin profilieren. „Wir haben das grüne Trikot übergestreift“, sagt ein hochrangiger FFFunktionär in Anspielung auf die Nationalfarbe der grünen Insel. „Das können wir jetzt nicht ausziehen.“
Varadkars Bewegungsfreiheit für einen Kompromiss mit London über die nordirische Auffanglösung (back stop) ist gleich Null. Das in langen Nachtsitzungen der 1990er- und 2000er-Jahre erarbeitete Vertrauen zwischen den jeweiligen Regierungschefs in London und Dublin ist Vergangenheit. Das persönliche Verhältnis zwischen May und Varadkar, Sohn eines indischen Arztes und einer Irin, hat die Financial Times kürzlich als „ungelenk und mühsam“beschrieben. Kein anderer EU-Nachbar hätte so viel zu verlieren wie Irland, sollte Großbritannien Ende März ohne Austrittsvereinbarung („no deal“) ausscheiden. Der wirtschaftliche Schaden für Irland wäre immens, schließlich gingen im vergangenen Jahr 22 Prozent aller irischen Exporte auf die Nachbarinsel.