„Man sollte sich Auszeiten einbauen“
Dr. Michael Titze klärt auf, warum es besonders an Weihnachten Zoff gibt und wie man ihn vermeiden kann
TUTTLINGEN - Weihnachten – das ist das Fest der Liebe und der Besinnlichkeit. Doch ein Verwandtschaftsbesuch jagt den nächsten und nicht selten führt ein scheinbar harmloses Thema im trauten Familienkreis zu Reibereien oder gar Streit. Warum Weihnachten nicht nur eine Zeit der Besinnlichkeit ist und was man zur Konfliktvermeidung tun kann – darüber hat sich Redakteurin Sabine Krauss mit dem Tuttlinger Psychologen und Psychoanalytiker Dr. Michael Titze unterhalten. Herr Titze, ist es tatsächlich so, dass an Weihnachten viel gestritten wird? Es muss nicht sein, aber es ist durchaus so, dass die Weihnachtszeit Raum für die Entfaltung etlicher Konflikte bietet. Auch in meiner Praxis habe ich in der Zeit nach Weihnachten entsprechende Schilderungen bzw. Sätze gehört wie „Jetzt hat sich ein Verwandter so benommen, wie ich ihn schon lange nicht mehr erlebt habe.“ Aber warum kommen gerade an Weihnachten Konflikte auf – wo wir doch eigentlich alle Frieden und Ruhe haben wollen? Genau das ist das Problem. In der Weihnachtszeit sind herkömmliche Vorgaben angesagt, wie man sich zu verhalten hat: nämlich unbedingt friedfertig und „gut“zu sein. Bei einer normalen Abendeinladung kann man nach drei bis vier Stunden wieder gehen, doch an Weihnachten ist der Zwang da, über Tage Frieden zu halten. Doch wenn Menschen zu etwas gezwungen werden, reagieren sie häufig widersprüchlich. Wenn sie dann noch auf engem Raum zusammen sind und miteinander harmonisch auskommen müssen, ergeben sich oft unschöne Zankereien. Das geschieht schon alleine dadurch, dass es kaum Rückzugsmöglichkeiten gibt. Das bedeutet, man sollte sich während der Weihnachtsfeiertage auch einmal zurückziehen? Ja, wir sollten Auszeiten einbauen. Wir sollten die Weihnachtsfeiertage nicht nach einem straffen Zeitplan verbringen, sondern eher locker und spontan angehen. Das bedeutet, dass wir nicht zu viele Besuche einplanen und uns auch mal erlauben, nur das zu tun, wozu wir gerade Lust haben. Zum Beispiel würde es manchen gut tun, sich zwischendurch mal einen Film anzuschauen oder sich in ein Buch zu vertiefen. Es ist auch völlig in Ordnung, wenn ein Jugendlicher mal eine Weile hinter seinem Smartphone verschwindet. Generell kann man sagen: Man sollte das Weihnachtsfest so gestalten, dass jeder seine eigene Persönlichkeit entfalten kann. Vorhin sagten Sie, dass Menschen unter Zwang zu widersprüchlichen Reaktionen neigen. Aber es ist doch nicht so, dass Menschen von vorneherein trotzig in die Weihnachtsfeiertage starten und es auf Streit anlegen! Nein, das nicht. Aber in einer Ausnahmesituation wie dieser kommt in uns das innere Kind durch. Um das zu verstehen, müssen wir etwas tiefer in die Psychologie einsteigen. Wir Menschen greifen in unserem Handeln nämlich auf zweierlei Voraussetzungen zurück: Das ist zum einen das intuitive Bezugssystem, das seit Anbeginn unseres Lebens in uns steckt und unser eigentliches Wesen bestimmt. Das andere Bezugssystem umfasst die vielen Benimm-Regeln, die uns durch die Erziehung beigebracht wurden: also das, was durch äußere Umstände vorgegeben ist – wie das eben auch an Weihnachten der Fall ist. Werden wir nun durch die entsprechenden Regeln zu einem bestimmten Verhalten gezwungen, meldet sich in uns das trotzige innere Kind – beim einen mehr, beim anderen weniger. Das müssen Sie allen PsychologieLaien näher erklären... Bezüglich unseres inneren Wesens, also dem Kind in uns, unterscheidet die Psychologie zwischen vier typischen Grundhaltungen. Diese sind beim einzelnen Menschen verschiedenartig ausgeprägt. Doch die jeweilige Grundhaltung wirkt sich, wenn auch unbewusst, bei jedem von uns in einer ganz typischen Weise auf seine geselligen Aktivitäten aus. Man kann – nicht nur beim Thema Konflikte zur Weihnachtszeit – unser eigenes Verhalten besser verstehen, wenn man sich diese Grundtypen näher anschaut. Dann klären Sie uns auf, was das ist, das in uns steckt... Typus eins ist „der Boss“. Von ihnen gibt es in jeder Familie mindestens einen. Sie müssen immer im Mittelpunkt stehen und wollen sich darstellen und präsentieren. Unter dem Weihnachtsbaum führen sie beispielsweise immer das große Wort. Würdigt man ihn nicht genügend oder gibt ihm Kontra, kann es schnell zu Provokationen und Streit kommen. Typus zwei ist „der Star“, der durch Charme und Lächeln besticht. Er ist bei Streitigkeiten nicht der ursächliche Auslöser, kann sich aber beleidigt zurückziehen, wenn er nicht genügend beachtet wird. Und Typus drei und vier? Das sind Typen, die eher ruhig sind. Typus drei gilt als der „Eremit“. Er ist der stille Beobachter, der sich zurückhaltend und schweigsam gibt. Gleichzeitig will er oder sie durch aktive Leistung punkten und dadurch wertgeschätzt werden. Fällt dieser Wunsch ins Leere, kann sich beispielsweise die Mutter, wenn sie diesem Typus entspricht, gekränkt ins Bett verzieht, weil ihr Weihnachtsessen nicht genügend gewürdigt wurde. Typus vier bezeichnen wir als den „Lazarus“. Er ist insgesamt passiv und zurückhaltend und tut sich durch keine besondere Leistung hervor. Um was es ihm oder ihr vor allem geht, sind Mitgefühl, Rücksichtnahme und Schonung. Das heißt, je weniger sich die einzelnen Personen im Griff haben – also ihr inneres Kind an den Tag kehren – desto brisanter wird manch ein Weihnachtsfest? Im Prinzip ja. Wir sollten deshalb in der Lage sein, uns vom normativen Druck der Festtage nicht überwältigen zu lassen – also die gängigen Erwartungen, die man mit Weihnachten verknüpft, bewusst abzufedern. Aber was ist, wenn man selbst zwar entspannt ist, aber auf gereizte Verwandte trifft? Wichtig ist, dass wir uns nicht so sehr auf die Inhalte ihrer Worte konzentrieren, sondern die jeweilige Persönlichkeit so akzeptieren, wie sie im Grunde ist. Geht es zum Beispiel um provokante Aussagen, etwa politischer Art, so ließe sich sagen: „Toll, wie du dich ausdrücken kannst, du hättest Politiker werden können!“Oder: „Es ist einfach schön, dass wir dich dabei haben – du bringst immer Leben in die Runde!“Wir sollten uns dabei klar machen, dass jemand, der zum Beispiel der Typus „Boss“ist – also im Mittelpunkt stehen will – immer etwas tun wird, um auch tatsächlich im Mittelpunkt zu stehen. Wenn die Mutter also signalisiert, dass sie ihr Weihnachtessen gelobt haben möchte, sollte ihr der Ball direkt zurückgespielt werden, gerne mit einer humoristisch übersteigerten Formulierung, wie etwa: „Du bist die mit Abstand allerbeste Köchin!“. Solche Übertreibungen erreichen das innere Kind auf direktem Wege. Und wenn ein Anverwandter, der dem Typus des „Lazarus“zuneigt, den leisen Vorwurf erhebt, dass „an Weihnachten alle da sind, aber unterm Jahr nie jemand kommt“, kann eine schlichte Umarmung schnell Harmonie herstellen. Also verkürzt gesagt: Nicht auf provokante Äußerungen oder Vorwürfe einlassen? Wenn man sich auf eine wortgewaltige Diskussion einlässt, kann es sein, dass scheinbar belanglose Inhalte solch eine Brisanz entfalten, dass man sich hinterher fragt, warum sich das Ganze so hochgeschaukelt hat. Wenn wir den anderen hingegen so gelten lassen, wie er oder sie seit Kindheitstagen immer schon war, stellt sich eine heitere Gelassenheit praktisch von selbst ein.