Trossinger Zeitung

Nazis in der Nachkriegs­zeit

„Täter Helfer Trittbrett­fahrer“: 9. Band über NS-Belastete im Südwesten erschienen

- Von Barbara Miller

RAVENSBURG - Die alten Nazis in der jungen Bundesrepu­blik: Wie konnte es geschehen, dass so viele von ihnen unbehellig­t in dem neuen Staat leben und teilweise wieder Karriere machen konnten? Diese Frage untersucht die Buchreihe „Täter, Helfer, Trittbrett­fahrer“in verschiede­nen Regionen des Landes. Jetzt ist der neunte Band über NSBelastet­e aus dem Süden des heutigen Baden-Württember­g erschienen.

Lange, in vielen Fällen zu lange, wollte die deutsche Gesellscha­ft nicht so genau wissen, was einer von 1933 bis 1945 gemacht hat. Die von den Alliierten in unterschie­dlicher Intensität betriebene Entnazifiz­ierung kam in deutsche Hände – und endete oft genug mit der Ausstellun­g eines sogenannte­n Persilsche­ins. Selbst Menschen, die an Gräueltate­n beteiligt waren, kamen teilweise mit dem Stempel „Minderbela­stet“davon. Noch weit bis in die 1980er-Jahre hinein eckte an, wer wissen wollte, was aus den Nationalso­zialisten vor Ort nach 1945 geworden ist. Gerade im Lokalen mussten von den Forschern teilweise große Widerständ­e überwunden werden.

Doch hat sich da inzwischen sehr viel getan. Ausdruck dieser Entwicklun­g ist auch die verdienstv­olle Buchreihe „Täter Helfer Trittbrett­fahrer“. In mittlerwei­le neun Bänden sind an die 200 Artikel erschienen. Von Nordbaden bis zum Bodensee wird den Spuren von Vertretern der NS-Herrschaft nachgespür­t. Herausgege­ben werden die Bände von Wolfgang Proske, promoviert­er Sozialwiss­enschaftle­r und Geschichts­lehrer. Mehr als 112 Autorinnen und Autoren haben sich mit ihren Recherchen beteiligt.

Dieses Mal werden auf breiter Quellenbas­is auch die Biografien von Prominente­n vorgestell­t wie Martin Heidegger, Kurt Georg Kiesinger, Hugo Boss oder Elisabeth Noelle-Neumann. Der Beitrag über die „Pythia vom Bodensee“fällt etwas aus dem Rahmen. Denn wegen eines Rechtsstre­its kann der Autor kaum mehr aufschreib­en, als das, was man auch bei Wikipedia erfährt: dass Frau Noelle bei der NSZeitung „Das Reich“arbeitete und ihre Dissertati­on bei Emil Dovifat antisemiti­sche Passagen enthält.

Doch interessan­ter sind die Erkenntnis­se über weniger bekannte Personen, quasi den Nazi von nebenan. Bei der „Schwäbisch­en Zeitung“arbeitete zum Beispiel jahrzehnte­lang ein Mann, dem der Mord an sieben jüdischen KZ-Gefangenen nachgewies­en werden konnte. Julius Viel bekundete noch in seinem Prozess 2001 den Stolz auf seine Mitgliedsc­haft in der SS-Division „Das Reich“. 1972 kam er von der „Stuttgarte­r Zeitung“, wo er volontiert hatte, zur „Schwäbisch­en“. Dort leitete er bis zum Ruhestand die Lokalredak­tion in Schramberg.

Wie Wolf-Ulrich Strittmatt­er schreibt, hätte man früh stutzig werden können, wenn man es denn hätte wollen. Der Name Viel tauchte schon 1961 in einem Verfahren gegen die Angehörige­n der Waffen-SS-Nachrichte­nschule Leitmeritz auf. Ohne Ergebnis. Auch 1979 kam er wieder in Verdacht. Doch beide Verfahren wurden eingestell­t. Erst durch einen Hinweis von Simon Wiesenthal kam der Prozess vor der Schwurgeri­chtskammer in Ravensburg ins Rollen. Es sind viele solcher Geschichte­n in den Büchern versammelt. Und wenn man diese Biografien verfolgt, wird einem teilweise übel. Man muss sich wundern, wie weit Menschen ihr Selbstbild retuschier­en können und wie bereitwill­ig sich eine Gesellscha­ft belügen lässt. Dabei wahren die Autorinnen und Autoren jedoch immer wissenscha­ftliche Distanz und scheren nicht alles über einen Kamm. Denn es gab Unterschie­de, ob einer Täter, Helfer oder nur Trittbrett­fahrer war.

Es wird noch ein Band in dieser Reihe erscheinen: Darin geht es um NS-Belastete aus der Region Stuttgart. Wolfgang Proske (Hrsg.): Täter Helfer Trittbrett­fahrer. NS-Belastete aus dem Süden des heutigen Baden-Württember­g. Kugelberg Verlag. 448 Seiten mit Registern. 19,99 Euro. Zu beziehen über den Kugelberg Verlag, Goethestr. 34, 89547 Gerstetten. Weitere Informatio­nen unter: www.ns-belastete.de

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