Nazis in der Nachkriegszeit
„Täter Helfer Trittbrettfahrer“: 9. Band über NS-Belastete im Südwesten erschienen
RAVENSBURG - Die alten Nazis in der jungen Bundesrepublik: Wie konnte es geschehen, dass so viele von ihnen unbehelligt in dem neuen Staat leben und teilweise wieder Karriere machen konnten? Diese Frage untersucht die Buchreihe „Täter, Helfer, Trittbrettfahrer“in verschiedenen Regionen des Landes. Jetzt ist der neunte Band über NSBelastete aus dem Süden des heutigen Baden-Württemberg erschienen.
Lange, in vielen Fällen zu lange, wollte die deutsche Gesellschaft nicht so genau wissen, was einer von 1933 bis 1945 gemacht hat. Die von den Alliierten in unterschiedlicher Intensität betriebene Entnazifizierung kam in deutsche Hände – und endete oft genug mit der Ausstellung eines sogenannten Persilscheins. Selbst Menschen, die an Gräueltaten beteiligt waren, kamen teilweise mit dem Stempel „Minderbelastet“davon. Noch weit bis in die 1980er-Jahre hinein eckte an, wer wissen wollte, was aus den Nationalsozialisten vor Ort nach 1945 geworden ist. Gerade im Lokalen mussten von den Forschern teilweise große Widerstände überwunden werden.
Doch hat sich da inzwischen sehr viel getan. Ausdruck dieser Entwicklung ist auch die verdienstvolle Buchreihe „Täter Helfer Trittbrettfahrer“. In mittlerweile neun Bänden sind an die 200 Artikel erschienen. Von Nordbaden bis zum Bodensee wird den Spuren von Vertretern der NS-Herrschaft nachgespürt. Herausgegeben werden die Bände von Wolfgang Proske, promovierter Sozialwissenschaftler und Geschichtslehrer. Mehr als 112 Autorinnen und Autoren haben sich mit ihren Recherchen beteiligt.
Dieses Mal werden auf breiter Quellenbasis auch die Biografien von Prominenten vorgestellt wie Martin Heidegger, Kurt Georg Kiesinger, Hugo Boss oder Elisabeth Noelle-Neumann. Der Beitrag über die „Pythia vom Bodensee“fällt etwas aus dem Rahmen. Denn wegen eines Rechtsstreits kann der Autor kaum mehr aufschreiben, als das, was man auch bei Wikipedia erfährt: dass Frau Noelle bei der NSZeitung „Das Reich“arbeitete und ihre Dissertation bei Emil Dovifat antisemitische Passagen enthält.
Doch interessanter sind die Erkenntnisse über weniger bekannte Personen, quasi den Nazi von nebenan. Bei der „Schwäbischen Zeitung“arbeitete zum Beispiel jahrzehntelang ein Mann, dem der Mord an sieben jüdischen KZ-Gefangenen nachgewiesen werden konnte. Julius Viel bekundete noch in seinem Prozess 2001 den Stolz auf seine Mitgliedschaft in der SS-Division „Das Reich“. 1972 kam er von der „Stuttgarter Zeitung“, wo er volontiert hatte, zur „Schwäbischen“. Dort leitete er bis zum Ruhestand die Lokalredaktion in Schramberg.
Wie Wolf-Ulrich Strittmatter schreibt, hätte man früh stutzig werden können, wenn man es denn hätte wollen. Der Name Viel tauchte schon 1961 in einem Verfahren gegen die Angehörigen der Waffen-SS-Nachrichtenschule Leitmeritz auf. Ohne Ergebnis. Auch 1979 kam er wieder in Verdacht. Doch beide Verfahren wurden eingestellt. Erst durch einen Hinweis von Simon Wiesenthal kam der Prozess vor der Schwurgerichtskammer in Ravensburg ins Rollen. Es sind viele solcher Geschichten in den Büchern versammelt. Und wenn man diese Biografien verfolgt, wird einem teilweise übel. Man muss sich wundern, wie weit Menschen ihr Selbstbild retuschieren können und wie bereitwillig sich eine Gesellschaft belügen lässt. Dabei wahren die Autorinnen und Autoren jedoch immer wissenschaftliche Distanz und scheren nicht alles über einen Kamm. Denn es gab Unterschiede, ob einer Täter, Helfer oder nur Trittbrettfahrer war.
Es wird noch ein Band in dieser Reihe erscheinen: Darin geht es um NS-Belastete aus der Region Stuttgart. Wolfgang Proske (Hrsg.): Täter Helfer Trittbrettfahrer. NS-Belastete aus dem Süden des heutigen Baden-Württemberg. Kugelberg Verlag. 448 Seiten mit Registern. 19,99 Euro. Zu beziehen über den Kugelberg Verlag, Goethestr. 34, 89547 Gerstetten. Weitere Informationen unter: www.ns-belastete.de