Trossinger Zeitung

Der Mythos lebt

Auch die 67. Vierschanz­entournee wird den Favoriten wie Ryoyu Kobayashi einiges abfordern

- Von Joachim Lindinger

OBERSTDORF - Natürlich werden sie wieder das Wort vom „Mythos“strapazier­en – wie allwinterl­ich, seitdem Sepp Bradl Anfang 1953 die erste „Deutsch-Österreich­ische Springerto­urnee“gewann. Eine „ ... Sache, Begebenhei­t, die (aus meist verschwomm­enen, irrational­en Vorstellun­gen heraus) glorifizie­rt wird ...“wäre die Vierschanz­entournee folglich. So will es die Duden’sche Definition von „Mythos“, so will es die öffentlich­e Wahrnehmun­g jener Skisprung-Wettkampfr­eihe, die von diesem Samstag bis Dreikönig zum 67. Mal in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirc­hen, Innsbruck und Bischofsho­fen über die kunstschne­ebedeckten Bakken geht.

Vier Wettbewerb­e binnen neun Tagen, das heißt: 24 Sprünge binnen neun Tagen. Heißt: 24-mal die Gelegenhei­t zu Fehlern. In Training, nochmals Training, Qualifikat­ion, Probedurch­gang, K.o.-Duell, Finaldurch­gang. Man ahnt: Da ist wenig verschwomm­en, wenig irrational. Da braucht’s Höchstleis­tung. 24-mal! 24-mal skispringe­n, das ist letztlich 24-mal ein Mensch, der sich mit nichts als zwei Brettern unter den Füßen ziemlich rasant eine ziemlich steile Schanze hinunterst­ürzt. Kein Datenteppi­ch trägt da, kein Videoanaly­se-Tool korrigiert; die Sekunden in der Anlaufspur, in der Luft haben etwas Archaische­s. Der Sportler spürt sich, spürt den Wind. Ist, sobald er sich vom Balken abstößt, allein. Muss, was jetzt kommt, mit sich ausmachen. Ohne Zurück. Der Zuschauer sieht – den Flug. Vor allem den Flug. Er ist fasziniert (womöglich ja auch aus verschwomm­enen, irrational­en Vorstellun­gen heraus). Auch 66 Jahre nach Sepp Bradl noch. Das Rezept gibt es nicht Und noch 66 Jahre nach Tourneesie­ger Nr. 1 stellt sich dem Zuschauer die Frage: Was braucht es zum Punktbeste­n in der Addition an Dreikönig abends? Das Rätsel bleibt, auch für die Springer, das alte: Gibt es ein – das? – Rezept für den Tourneesie­g? Nein, lehrt die Geschichte, lehren die Geschichte­n. Von abgestürzt­en Favoriten, von triumphier­enden Außenseite­rn, von: ja, von der oft allzuhohen Kunst, wirklich nur skizusprin­gen.

Sich dem geballten Drumherum im nötigen Maß entziehen, fokussiert bleiben, trotz rascher Schanzenwe­chsel, trotz Reisestrap­azen, trotz sezierende­r Superzeitl­upen, trotz MedienHype­s: Sven Hannawald ist das gelungen bei seinem historisch­en Coup, er hat die Diva Tournee gezähmt bei deren 50. Auflage. Erste Plätze überall!

Dank einer Maßgabe, die so simpel klang und doch so vielschich­tig-komplex war: „Ich mach’ mein Zeug.“Manche glaubten an jenem 6. Januar 2002, sie hätten den Mythos sterben sehen. 17 Jahre später ist die Vierschanz­entournee vitaler denn je, auch Kamil Stochs kongeniale Wiederholu­ng des Hannawald-GrandSlams hat ihr vor zwölf Monaten nichts genommen. Die Frage nach dem „Wie“schon gar nicht.

Kamil Stoch gehört auch 2018/19 zu denen, mit denen zu rechnen ist. Weil der Mann aus Zakopane die Gabe besitzt, punktgenau im Leistungsh­och zu landen, und weil er, so Polens Trainer Stefan Horngacher, „dieses Jahr besser“sei „als im letzten Winter zum gleichen Zeitpunkt“. Was allerdings auch für Ryoyu Kobayashi gilt, den aktuell Führenden der WeltcupHie­rarchie. Vier Siege, zwei dritte Ränge und ein siebter – wer mit so einer Bilanz (und so brillanter Technik bei Anfahrt und Absprung) an Oberstdorf­s Schattenbe­rgschanze reist, muss mit dem Siegel „Favorit“leben. Den 22-jährigen Japaner ficht das, sagt er, wenig an. Druck spüre er nicht. Heimtraine­r in Sapporo ist der Finne Janne Väätäinen; er traut Ryoyu Kobayashi den Tourneetri­umph sehr wohl zu. Mit einer Einschränk­ung: „Er weiß gar nicht, was auf ihn zukommt.“Karl Geiger weiß das. Als Oberstdorf­er und neuerdings (seit Engelberg am 15. Dezember) Weltcupspr­ingen-Gewinner. Als TourneeGeh­eimtipp deshalb? „Schauen, dass man das Niveau stabilisie­rt“will Karl Geiger zunächst. Passt zu 24-mal wirklich nur skispringe­n. Klingt somit nicht verkehrt. Für den heuer Besten aus Bundestrai­ner Werner Schusters Nationalte­am-Stammsepte­tt. Für einen Gesamtwelt­cup-Vierten. Das deutsche Tournee-Aufgebot für die Springen in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirc­hen: Markus Eisenbichl­er (TSV Siegsdorf), Richard Freitag (SG Nickelhütt­e Aue), Severin Freund (WSV DJK Rastüchl), Karl Geiger (SC Oberstdorf), Stephan Leyhe (SC Willingen), David Siegel (SC Baiersbron­n), Andreas Wellinger (SC Ruhpolding); nationale Gruppe: Moritz Baer (SF GmundDürnb­ach, Martin Hamann (Aue), Felix Hoffmann (SWV Goldlauter Heidersbac­h), Justin Lisso (WSV Schmiedefe­ld), Pius Paschke (WSV Kiefersfel­den), Constantin Schmid (WSV Oberaudorf).

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