Trossinger Zeitung

Wenn Eltern die Welt nicht mehr verstehen

Brechen Kinder unvermitte­lt den Kontakt ab, sind der Schmerz und die Scham bei den Betroffene­n groß

- Von Sandra Tjong

D

iese eine Frage stellt sich Waltraud D. immer wieder: „Was haben wir anders gemacht als andere Familien, die normal zusammenle­ben?“Ihre Tochter lehnt jeden Kontakt zu ihr und ihrem Mann ab. Warum genau, weiß sie nicht. Gut – dass sie eher der Typ Glucke ist, ist ihr bewusst. Sie hat ihre Tochter nachts vom S-Bahnhof abgeholt, wenn sie mit Freunden unterwegs war. Und sie hat ihr noch den Kleidersch­rank akkurat aufgeräumt, als die Tochter schon in der Pubertät war. Doch ist das Grund genug, gar nichts mehr von ihr wissen zu wollen? „Andere Kinder erleben viel schlimmere Dinge und brechen trotzdem nicht mit ihren Eltern“, sagt sie ratlos.

Waltraud D. ist eine von fünf Frauen, die sich an einem Abend in einem Raum in der Inneren Mission in München treffen, um über ihre Erfahrunge­n als verlassene Eltern zu sprechen. Mit allen ist Anonymität vereinbart, denn was sie erzählen, ist sehr persönlich. Etwas, das viele von ihnen noch immer im Bekannten-, teils sogar im Verwandten­kreis verschweig­en. Weil die Scham so groß ist. Und die Angst, dass Außenstehe­nde doch nur denken: „Irgendwas Schlimmes wirst du schon gemacht haben.“

Deshalb gibt es auch keine Zahlen, wie viele Eltern betroffen sind. Doch es passiert häufiger, als man gemeinhin annehmen möchte. „Die wenigsten wissen, dass es so viele Leidensgef­ährten gibt“, sagt Inge S. Selbst betroffen, rief sie vor gut einem Jahr die Selbsthilf­egruppe in München ins Leben. Nach einer kurzen Anlaufzeit stieg die Nachfrage extrem an. Auch in anderen süddeutsch­en Städten gibt es Selbsthilf­egruppen: in Meitingen nördlich von Augsburg, in Nürnberg und im oberfränki­schen Ebermannst­adt. Im November eröffnete außerdem in Konstanz eine Gruppe für die Bodenseere­gion.

Meist sind es Frauen, die zu den monatliche­n Treffen kommen, sagt Inge S. Sie alle eint, dass sie nicht mehr allein sein wollen mit ihrem Schmerz. „Für mich ist wichtig, mit Menschen zu sprechen, die mich verstehen“, sagt Johanna M. Sie ist 52 Jahre alt, wirkt mit ihren blondierte­n Haaren und Tattoos aber wesentlich jünger. Sie hat zwei Töchter. Eine wohnt noch bei ihr. Die andere hat jeglichen Kontakt abgebroche­n, als sie fürs Studium das Haus verließ. Sie schmettert­e ihr lediglich diesen einen Satz hin: „Seit ich da bin, fühle ich mich schuldig.“Der kreist seitdem in ihrem Kopf. Was hat sie falsch gemacht? Wie konnte es so weit kommen? Die Frage steht an dem Abend immer wieder im Raum. Bis auf Inge K., deren Söhne sich nach der überrasche­nden Trennung von ihrem Mann abwandten, kann

sie niemand beantworte­n. Allenfalls eine Ahnung haben die Frauen. Doch das ist nicht genug, um die bohrenden Fragen aus dem Kopf zu kriegen.

Johanna M. weiß, dass der Bruch mit ihrer schwierige­n Ehe zu tun hat und dass sie manchmal schwer zu ertragen war. Inzwischen lebt sie getrennt von ihrem Mann, doch den Schritt habe sie viel zu spät getan, sagt sie. Wenngleich sie sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder Kontakt mit der Tochter zu haben, ist es ihr großes Ziel loslassen zu können. „Das heißt ja nicht, dass mir mein Kind egal ist, sondern dass ich es loslassen kann“, sagt sie. „Nur: Was kann ich tun, damit ich das Loslassen wirklich leben kann?“

Eine Frage, die sich auch die anderen stellen. „Egal, was ich unternehme, die Ohnmacht holt mich immer wieder ein“, sagt Renate S., dunkle Locken, freundlich­e Augen. Ihre Tochter, inzwischen 30, ist vor fünf Jahren umgezogen. Sie kündigte noch an, alle bald zur Einweihung­sfeier einzuladen. Es war das Letzte, was die Familie von ihr gehört hat. Auch mit den Freunden hat die junge Frau gebrochen. Über einen Privatdete­ktiv fand Renate S. heraus, dass die Tochter mit einem Arzt zusammenle­bt.

Sie befürchtet, er könne sie in eine Sekte eingeführt haben. „Wenn sie doch nur einmal sagen würde, dass es ihre eigene Entscheidu­ng war, den Kontakt abzubreche­n“, sagt Renate S. Inzwischen ist sie Oma, das Kind kennt sie aber nicht. „Ich sehe nur noch Omas mit ihren Enkelkinde­rn. Das verfolgt mich.“

Nicht immer geht es bei den Treffen allein ums Reden. Inge S. will demnächst mit einer Psychologi­n Workshops anbieten zu Themen wie Loslassen oder Dankbarkei­t. Und jüngst war eine Frau zu Gast, die ihrerseits von heute auf morgen mit ihrer Mutter gebrochen hatte und der Runde ihre Gründe darlegte. Sie habe ihre Mutter als dominant empfunden und sich nicht geliebt gefühlt, schilderte sie. „Das gibt mir Hoffnung“, sagt Waltraud D. „Ich war vielleicht mal übergriffi­g, habe zu viel geliebt. Aber immerhin liebe ich.“

Jochen Rögelein kennt solche Geschichte­n zur Genüge. Er ist systemisch­er Familienth­erapeut in München. Oft kämen zu ihm Klienten wegen anderer Probleme, erzählt er. Im Gesprächsv­erlauf stelle sich dann heraus, dass zu einem Kind – bisweilen auch Geschwiste­rn – keinerlei Kontakt mehr bestehe. „Meistens gibt es kein zentrales Thema oder Ereignis, worauf man den Bruch zurückführ­en kann“, sagt er. „Es bahnt sich über lange Zeit an, als chronische­r Konflikt, der in der Wahrnehmun­g

des Kindes nicht lösbar ist.“

Häufig geht es nach seiner Erfahrung um Verständni­s und Akzeptanz: Dass das Kind das Gefühl hat, die Eltern erkennen nicht, wer es ist, dass sie sich trotz fortgeschr­ittenen Alters vor der elterliche­n Fürsorge nicht retten können – oder auch, dass sie glauben, dass sich die Eltern nicht für sie interessie­ren. „Bei einer Freundscha­ft würde man sagen: Der oder die tut mir nicht gut. Deshalb ist ein weiterer Kontakt nicht sinnvoll.“

Rögelein hält es nicht für zielführen­d „loszulasse­n“. Zumindest nicht in dem Sinne, dass man das Kind auch nicht mehr beachtet. „Die Gefahr ist, dass es dann das Gefühl hat, egal geworden zu sein. Aber kein Kind verlässt die Eltern gerne. Es geht aus einer inneren Not heraus.“In Wirklichke­it wolle in der Regel auch das Kind zurück; allerdings nur, wenn sich die Eltern verändert haben und es dies spürt.

Rögelein empfiehlt daher profession­elle Hilfe. Wenn das Kind den direkten Kontakt mit den Eltern ablehne, könne ein Therapeut als neutrale Person zu einem Gespräch einladen, bei dem das Kind seine Sicht darlegen kann. Ohne Eltern. „Das wird selten ausgeschla­gen. Denn jeder habe das Bedürfnis, Konflikte zu lösen.“

Danach könne man absehen, inwiefern eine Annäherung möglich sei. „Schnelle Lösungen gibt es nicht“, sagt Rögelein. „Erst muss ein Prozess des Verstehens eingeleite­t werden.“Was ihm wichtig ist: „Dabei geht es nicht um Schuldfrag­en. Es geht allein um das Verstehen der Zusammenhä­nge und der Verantwort­ung.“

Ein Anliegen, das auch Marion Hendreich am Herzen liegt. Sie hat Ende November eine Selbsthilf­egruppe für verlassene Eltern am Bodensee eröffnet und keine Scheu, ihren Namen zu nennen. „Ich bin inzwischen so weit, dass ich offen damit umgehe“, sagt die 62 Jahre alte Frau. Ihr Anliegen ist vor allem, verlassene­n Eltern zu zeigen, dass es die Möglichkei­t zum Austausch gibt. „Anfangs stehst du ja unter Schock und bekommst nichts anderes mit.“

Hendreich hat zwei Söhne, der jüngere hat vor etwa drei Jahren den Kontakt zu ihr abgebroche­n, kurz nach der Geburt des ersten Enkels. Besonders bitter ist, dass er gleichzeit­ig Kontakt zu seinem Vater aufnahm. Der hatte die Familie verlassen, als Hendreich mit dem jüngeren Sohn im fünften Monat schwanger war. Und jetzt ist er es, der mit Sohn und Enkel Weihnachte­n feiert.

Die genauen Beweggründ­e ihres

„Egal, was ich unternehme, die Ohnmacht holt mich immer wieder ein.“Renate S., deren Tochter sich seit fünf Jahren nicht mehr gemeldet hat

Sohnes kennt Hendreich nicht. Sie glaubt aber, dass er sich im Grunde schon in der Pubertät von ihr verabschie­det hat und sie gar nicht richtig kennt. „Ich würde mir wünschen, dass er sich Zeit nähme, mich wirklich kennenzule­rnen“, sagt sie. Das wünsche sie jedem Kind, das seine Eltern verlässt.

Der Schmerz dauert an. Doch immerhin hat er auch eine positive Entwicklun­g bewirkt: Die Beziehung zur eigenen Mutter ist intensiver geworden. „Dadurch, dass ich das Schweigen meines Sohnes erlebe, kann ich ihr jetzt offen sagen, was ich von ihr möchte und was ein Problem für mich ist“, sagt Hendreich. Und auch ihre Mutter erzähle nun mehr von sich.

Jeden zweiten Monat bietet Hendreich, die inzwischen auch eine Ausbildung zum Coach absolviert hat, ein Treffen im Landratsam­t in Konstanz an. Da vielen interessie­rten Betroffene­n der Weg zu weit ist, eröffnete sie parallel die Möglichkei­t zum Onlinetref­f via Zoom, einem Skype-ähnlichen Dienst, bei dem sich die Teilnehmen­den auf dem Bildschirm sehen.

„Die Wenigsten wissen, dass es so viele Leidensgef­ährten gibt.“Inge S., verlassene Mutter und Leiterin einer Selbsthilf­egruppe

 ?? FOTO: IMAGO ?? Wenn Eltern die Welt nicht mehr verstehen: Kontaktabb­rüche zwischen erwachsene­n Kindern und Eltern sind keine Seltenheit.
FOTO: IMAGO Wenn Eltern die Welt nicht mehr verstehen: Kontaktabb­rüche zwischen erwachsene­n Kindern und Eltern sind keine Seltenheit.

Newspapers in German

Newspapers from Germany