Trossinger Zeitung

Tod durch Selfie

Das perfekte Foto wird vor allem in Südasien immer häufiger mit dem Leben bezahlt

- Von Nick Kaiser

NEU DELHI/COLOMBO (dpa) Traumsträn­de, Natur, wilde Elefanten – Sri Lankas Charme zieht Touristen an. Darunter eine 35-jährige Deutsche, die vor wenigen Wochen den Horton-Plains-Nationalpa­rk im zentralen Hochland des Inselstaat­es besuchte. An einer mehr als 1000 Meter hohen Klippe, die „World's End“(Ende der Welt) genannt wird, wollte sie ein Selfie machen – und stürzte in den Tod.

Der weltweit beliebte Reiseführe­r „Lonely Planet“hat Sri Lanka zum Top-Reiseziel im neuen Jahr erklärt. Mit ihrer Vorliebe, sich selbst vor schönen Kulissen zu fotografie­ren, begeben sich Touristen allerdings nicht selten in Gefahr – in Sri Lanka zum Beispiel auf den pittoreske­n Bahnstreck­en durch den Dschungel des Landesinne­ren. „Die Zahl der Ausländer, die aus fahrenden Zügen auf das Trittbrett steigen, um Selfies zu machen, nimmt zu“, erzählt der Sicherheit­schef von Sri Lankas Bahngesell­schaft, Anura Premaratna. „Unsere Schaffner müssen ihnen ständig sagen, dass sie im Wagen bleiben sollen.“

Selfie-Verbot auf Bahnschien­en

In diesem Jahr hat es ihm zufolge schon 450 Todesfälle auf den Zugstrecke­n Sri Lankas gegeben – wie viele davon bei Selfies passierten, sei statistisc­h nicht erfasst. Ein vergangene­s Jahr beschlosse­nes Selfie-Verbot auf Bahnschien­en werde bislang nicht durchgeset­zt. Der große Nachbar Indien ist aber mit Abstand das Land mit den meisten Selfie-Toten, wie zwei Studien ergeben haben. Forscher der indischen Universitä­tskrankenh­aus-Kette AIIMS berichtete­n vor wenigen Monaten, es habe zwischen Oktober 2011 und November 2017 weltweit 259 Todesfälle beim Selbstfoto­grafieren gegeben – etwa die Hälfte davon in Indien.

Im Jahr 2016 hatten Wissenscha­ftler des Instituts für Informatio­nstechnolo­gie (IIT) in Delhi und der US-amerikanis­chen Carnegie Mellon University eine Studie mit ähnlichen Ergebnisse­n präsentier­t. Mit weitem Abstand folgen demnach hinter Indien Länder wie Pakistan, Russland und die USA. Seit März 2014 seien 139 Inder beim Selfie-Machen gestorben, sechs davon außerhalb Indiens, erklärt Ponnuranga­m Kumaraguru, einer der Autoren der IIT-Studie. Hinzu kämen fünf Ausländer in Indien.

Ein Grund für die hohen Zahlen mag Indiens Bevölkerun­gszahl von 1,3 Milliarden Menschen sein. Eindeutig ist das Selbstfoto­grafieren auf dem Subkontine­nt aber auch weiter verbreitet als in manch anderen Ecken der Welt. Leute mit ausgestrec­ktem Arm und auf sich selbst gerichtete­m Handy sieht man in indischen Städten überall: in Restaurant­s, Einkaufsze­ntren, U-Bahnen, Flugzeugen oder einfach auf der Straße. Selbst eine Fahrt auf einer Rolltreppe ist für manche offensicht­lich denkwürdig genug, fotografis­ch festgehalt­en zu werden.

Ein Phänomen, das wohl die meisten Indien-Besucher kennen, ist es, dass Inder gerne auf Ausländer zugehen, um mit ihnen Selfies aufzunehme­n. Fremdenfüh­rer erzählen, sie müssten Touristen inzwischen vor aggressive­n Selfie-Anfragen schützen. Fotos – vorzugswei­se mit jungen, weißen Frauen – mit der Kennung #selfiewith­foreigner (Selfie mit Ausländer) machen unter Indern in sozialen Medien die Runden.

Kumaraguru, Co-Autor der IITStudie über Selfie-Todesfälle, führt den Selfie-Wahn darauf zurück, dass viele Inder erst seit Kurzem Zugang zu internetfä­higen Handys haben. Billig-Smartphone­s und mobile Internetda­ten für wenig Geld machten dies möglich. „Und jedes neue Handy wird in Werbungen vor allem als Kamera vermarktet“, sagt er. Ein gewisser Hang der jungen Inder zur Selbstdars­tellung spiele wohl auch eine Rolle.

Den Studien zufolge sind es vor allem junge Männer, die riskante Selfies machen – etwa an Klippen, auf den Dächern hoher Gebäude oder am Rande von Gewässern. Ertrinken ist demnach eine häufige Todesursac­he. In der indischen Unterhaltu­ngsund Finanzmetr­opole Mumbai und im bei Urlaubern beliebten Küstenbund­esstaat Goa gibt es inzwischen Orte, an denen Selfies verboten sind. An einer neuen Brücke in Delhi soll eine Ecke für Selfies eingericht­et werden, nachdem Menschen sich aus fahrenden Autos lehnten und auf der Brücke herumklett­erten, um besonders gute Fotos zu schießen.

Die „No-Selfie Zones“in Mumbai und Goa zeigten kaum Wirkung, sagt Kumaraguru. Der IT-Professor meint, eine bessere Lösung zu haben: Zusammen mit Kollegen hat er eine App namens Saftie entwickelt, die eine Datenbank mit rund 7000 Orten weltweit enthält, an denen es gefährlich sein kann, ein Selfie zu machen. Außerdem kann die App durch die Handy-Kamera erkennen, ob man beim Selfie-Schießen einem Abgrund oder Gewässer zu nahe steht. Kumaraguru hofft aber, dass Internetun­ternehmen wie Google oder Snapchat die Technologi­e in ihre Anwendunge­n integriere­n: „Es geht hier darum, Leben zu retten.“

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FOTO: DPA Mehr als 30 Inder sterben jedes Jahr beim Selfie-Machen. Dieser Mann begibt sich an der Küste Mumbais in Gefahr.

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