Der Fluch der Fläche
Kommunen im ländlichen Raum sind im Gegensatz zu Ballungszentren wie Stuttgart bei Förderprogrammen oft schlechter gestellt
BAD WURZACH - Es geht immer weiter, durch Dörfer, Wäldchen, Moore und Wiesen, vorbei an Gehöften – zwei Stunden schon. Die Autofahrt an der Seite von Bürgermeisterin Alexandra Scherer scheint kein Ende zu nehmen. Dann meint die umtriebige Kommunalpolitikerin der CDU auch noch beiläufig: „Aber durchs ganze Gemeindegebiet schaffen wir es vor der Dunkelheit nicht mehr.“Muss auch nicht sein. Der bisherige Eindruck reicht. Bad Wurzach hört nicht so schnell auf, die städtische Gemarkung zwischen dem württembergischen Allgäu und Oberschwaben scheint endlos zu sein. Und ein Gefühl für die Distanzen zu bekommen, war schließlich der tiefere Sinn für die Fahrt mit Scherer.
Dahinter versteckt sich die Frage, ob solche flächenmäßig riesigen Gemeinden benachteiligt sind – etwa gegenüber Ballungszentren wie Stuttgart und dem mittleren Neckarraum? „Beim Zuteilen von Fördermitteln auf jeden Fall“, sagt Scherer. Sie sieht einen deutlichen Gegensatz zwischen Großstädten und dem ländlichen Raum. Scherer denkt speziell an einstmals überschaubare Provinzorte, die erst Anfang der 1970er-Jahre durch die Kommunalreform über alle Maße gewachsen sind.
Es war die Zeit der Eingemeindungen. Bad Wurzach wuchs um neun vorher unabhängige Orte. Deshalb stellt sich die Aufgabe der Bürgermeisterin folgendermaßen dar: Sie regiert die drittgrößte Flächengemeinde Baden-Württembergs. 182,26 Quadratkilometer sind es. Bloß die Landeshauptstadt und Baiersbronn im Nordschwarzwald haben mehr.
„Schön“, könnte man nun sagen: Bad Wurzach ist ein beschauliches Kurstädtchen, das mit seiner Ausdehnung fast wie ein kleines Reich wirkt. Weshalb Einheimische immer mal wieder gerne darauf hinweisen: „Wir sind größer als das Fürstentum Liechtenstein.“Leider gibt es da diesen Pferdefuß: Dass Fläche auch eine Last sein kann. „Wegen der Teilgemeinden“, sagt die Bürgermeisterin, „brauchen wir alles mehrfach: Schulen, Kindergärten, Kläranlagen – insgesamt gilt dies für die ganze Infrastruktur.“
Die Problematik wird noch verschärft durch ein historisch gewachsenes, ländliches Gefüge mit zahllosen Weilern und Gehöften auf der weiten Fläche. Allein das von Bad Wurzach zu betreuende Straßennetz misst 500 Kilometer, berichtet Scherer. Das Leitungsnetz erstreckt sich über 370 Kilometer. Es gibt zwölf Schulen und elf Kindergärten. Drei Kläranlagen werden benötigt. Fast schon Alptraumcharakter hat der Aufbau einer flächendeckenden Breitbandversorgung fürs schnelle Internet. Scherer verweist auf hohe Investitionskosten bei oft nur geringer Anschlusszahl, weil die Interessenten weit von einander entfernt wohnen.
Die finanziellen Herausforderungen
„Wir brauchen alles mehrfach: Schulen, Kindergärten, Kläranlagen.“Alexandra Scherer, Bürgermeisterin der Flächengemeinde Bad Wurzach
sind offenbar beträchtlich. Scherer würde sie gerne durch Fördermittel des Landes verringert sehen. Der Knackpunkt dabei: Bad Wurzach hat nur knapp 15 000 Einwohner. Die Förderung von Kommunen hängt aber in Baden-Württemberg vor allem von der Zahl der Einwohner ab: Wer viel davon hat, erhält üblicherweise mehr Geld. Naturgemäß profitieren davon meist Großstädte. Dies tun aber auch Kommunen wie das oberschwäbische Weingarten mit seinen nur gut zwölf Quadratkilometern Fläche – bei 25 000 Einwohnern.
Wer wenig Bürger, aber eine große Gemarkung hat, schaut hingegen fast schon in die Röhre. Speziell im ländlichen Raum ist dies oft der Fall, ganz gleich ob in Oberschwaben, auf der Alb, im württembergischen Allgäu oder sonst wo. Teure infrastrukturelle Herausforderungen erscheinen dann so etwas wie persönliches Pech zu sein. „Einfach ungerecht“, findet Scherer das.
Mit dieser Meinung ist sie bei Weitem nicht alleine. In Ehingen im Alb-Donau-Kreis wird ebenso gedacht. „Im Vergleich zu Städten mit einem kleinen Gebiet und einer verhältnismäßig hohen Bevölkerungsdichte haben wir mit unserer Siedlungsstruktur deutlich höhere Kosten zu tragen, wenn man an die Bereitstellung der nötigen Infrastruktur denkt“, stellt der dortige CDUOberbürgermeister Alexander Baumann fest. Seine Gemeinde steht von der Fläche her in Baden-Württemberg an vierter Stelle. 178,37 Quadratkilometer bei 26 000 Einwohnern.
Dann folgt bereits Leutkirch im Allgäu mit 174,96 Quadratkilometern. Hier sitzt Hans-Jörg Henle als Parteiloser auf dem Stuhl des Oberbürgermeisters und verwaltet rund 23 000 Einwohner. Er meint: „Eine Flächenkomponente ist dringendst geboten, um die bisherige Benachteiligung endlich aufzuheben.“ CDU will Abhilfe schaffen Dass die gegenwärtige Situation nicht optimal ist, haben inzwischen auch die Landespolitiker eingesehen. Bereits im Koalitionsvertrag des grün-schwarzen Regierungsbündnisses in Stuttgart wurde der Gedanke an eine Flächenkomponente erfasst. Dort ruhte er jedoch bis zum vergangenen Sommer. Dann erfolgte ein Vorstoß des Ellwanger Landtagsabgeordneten und stellvertretenden CDU-Fraktionsvorsitzenden Winfried Mack, der bei sich zu Hause selbst von besagtem Problem betroffen ist. Die Christdemokraten wollen Nägel mit Köpfen machen. Sie fordern mit Verweis auf den Koalitionsvertrag ein Förderprogramm für den ländlichen Raum, bei dem die Fläche eine wichtige Rolle spielen soll.
Im Landtagswahlkreis Wangen liegen gleich zwei der größten Flächengemeinden, nämlich Bad Wurzach und Leutkirch. Direkt gewählter Abgeordneter ist Raimund Haser von der CDU. Er meint zu dem anvisierten Förderprogramm: „Letztlich geht es um einen gerechten Lastenausgleich. Leutkirch ist zum Beispiel der Fläche nach die fünftgrößte Gemeinde des Landes. Bei den Einwohnern belegt sie Platz 87. Da kann die Einwohnerzahl nicht das Maß aller Dinge sein.“
Um aber wirklich zusätzliches Geld für Flächengemeinden bereitstellen zu können, müssten die Mittel im neuen Doppelhaushalt des Landes für 2020 und 2021 erfasst werden. Die Planungen für den Etatentwurf haben bereits begonnen. Wie es mit einem neuen Förderprogramm aussieht, ist jedoch unklar. „Der Städtetag und die Grünen sind skeptisch. Wenn man so will, hängt dies damit zusammen, dass sie eher die Vertreter der Ballungszentren sind“, glaubt Haser.
Martina Braun, Landtagsabgeordnete der Grünen und Fraktionssprecherin für den ländlichen Raum, weist eine irgendwie geartete Lobbyfunktion ihrer Partei für Ballungszentren zurück. Man habe den Bedarf von Flächengemeinden im Blick. Braun geht aber davon aus, dass „ein pauschaler Ausgleich aufgrund der Fläche den tatsächlichen Bedürfnissen nicht gerecht werden würde“. Davon könnten „häufig auch Kommunen profitieren, die gar keinen
„Letztlich geht es um einen gerechten Lastenausgleich.“Raimund Haser, Leutkircher Landtagsabgeordneter der CDU
besonderen finanziellen Bedarf haben“.
Martina Braun räumt zwar durchaus ein, dass es flächenbezogene Sonderlasten gebe, doch sei dafür bereits Ausgleich geschaffen worden – etwa durch das Förderprogramm Ländlicher Raum, das EU-Programm Leader oder der Ausgleichsstock des Landes für finanzschwache Kommunen. Ähnlich äußert man sich beim baden-württembergischen Städtetag. Die zuständige Dezernatsleiterin Susanne Nusser wirbt für „eine gezielte Förderung im Rahmen bereits bestehender Förderprogramme“. Einen Zuschlag für die Fläche lehnt sie ab. Nusser schätzt zudem, dass das Land dafür – anders als es der CDU-Vorstoß vorsieht – kein zusätzliches Geld zur Verfügung stellen würde. Entsprechende Signale hat Finanzministerin Edith Sitzmann von den Grünen schon ausgesendet. Nusser meint dann auch: „Es wäre also eine Umverteilung im bestehenden System nötig.“Mit anderen Worten: Ein Teil der bisher profitierenden Kommunen müsste Geld abgegeben. Die entsprechenden Klagen will man sich gar nicht vorstellen.
Unterstützung erhalten die Flächengemeinden hingegen vom Gemeindetag Baden-Württemberg, der Lobby der kleineren Gemeinden und der Mittelstädte im Land. „Die Flächenkomponente ist wichtig, um das in der Landesverfassung verankerte Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse im ganzen Land sichern zu können“, sagt Verbandspressesprecherin Kristina Fabijancic-Müller. Der Gemeindetag setzt sich dafür ein, das Geld aus einer möglichen Flächenkomponente ohne Umwege über Förderprogramme direkt an die Kommunen zu überweisen. Ihnen blieben auf diesem Wege Vorgaben von Programmverantwortlichen erspart. 13 000 Schneepfähle Bad Wurzachs Bürgermeisterin Alexandra Scherer wäre schon zufrieden, wenn sich irgendetwas bewegen würde. „Wir sind nicht schuldenfrei“, sagt sie. Es gebe immer mehr Projekte, als sich die Stadt leisten könne. „Da würden mehr finanzielle Mittel schon guttun, um unseren Aufgaben gerecht zu werden.“
Die sind mannigfaltig. Am Ende der zweistündigen Fahrt über die weite Gemarkung zeigt Scherer auf die vielen Stecken am Straßenrand: „Schneepfähle, 13 000 Stück, gesteckt aus Gründen der Verkehrssicherungspflicht. Dazu haben wir noch drei Kilometer Schneefangzaun installiert.“
Möglichwerweise erspart der Klimawandel Bad Wurzach irgendwann diese Ausgaben. Gegenwärtig aber kann man noch nicht ausschließen, dass Frau Holle auch mal wieder gewaltige Mengen Flocken vom Himmel fallen lässt.