Zwischen Machtinstinkt und Apfelsaft
Wie Hubert Aiwanger seine Freien Wähler an die Regierung brachte
MÜNCHEN/WESSENBURG
- Wer ihn nicht näher kennt, hält ihn für ein Phänomen. In Wahrheit ist Hubert Aiwanger ein Politiker von der Sorte, die es so (fast) nur in Bayern gibt. Laut, hemdsärmelig und machtbewusst hat es der Bauernsohn zum stellvertretenden Ministerpräsidenten gebracht. Klug ist der Chef der Freien Wähler auch. Aber das merken seine Widersacher oft erst dann, wenn es zu spät ist.
Womöglich ist es gar nicht so verkehrt, diese Karriere auch einem Zaubertrank zuzuschreiben. In diesem Fall dem Apelsaft. Wenn er von Fans lieb darum gebeten wird, sagt er es bis heute: „Oopfeisooft“. Ein gefundenes Fressen für Kabarettisten und ein Markenzeichen zugleich. So viel Dialekt wagt kaum noch ein Politiker, nicht einmal in Bayern.
Im kleineren Kreis wächst aber der Verdacht, dass der 47-Jährige auch ganz anders kann. Dass er sehr viel Ahnung hat, vor allem vom flachen Land und den dortigen Problemen. Vom Bauernsterben und den Strukturproblemen, von der Natur und auch vom Öko-Wahnsinn, zu dem der Umweltschutz gelegentlich verkommen ist.
Aiwanger hat Landwirtschaft studiert. In Weihenstephan und mit einem Stipendium der Hanns-SeidelStiftung, die bekanntlich zur CSU gehört, wie früher einmal fast ganz Bayern. Ganz selbstverständlich ist er danach in die Landwirtschaft der Eltern eingestiegen. Und in die Politik, von ganz unten. Bei der ersten Kandidatur für den Stadtrat von Rottenburg an der Laaber scheiterte er im Jahr 2002 noch knapp. Zwei Jahre später war er Kreisvorsitzender der Freien Wähler. Zweigbetrieb der CDU 2006, wieder zwei Jahre später, greift der damals 35-jährige Bauer nach der Macht. Was anfangs nicht weiter auffällt. Bayerns Freie Wähler gelten da noch als Honoratiorenvereinigung von allenfalls regionaler Bedeutung. Stellen zwar mehr Landräte und Bürgermeister als die damals noch nicht so sehr gerupfte SPD, werden aber eher als kommunaler Zweigbetrieb der CSU wahrgenommen. Sozusagen als gutbürgerliche Alternative.
Die Idee, mit solcher Hausmacht und kommunaler Kompetenz in die Landespolitik einzusteigen, bringt den losen Wahlverein an den Rand der Spaltung. Und sie wird zur Stunde des Hubert Aiwanger: In einer Stichwahl wird der außerhalb Niederbayerns kaum bekannte Agraringenieur Landesvorsitzender. Gewählt auch für sein erklärtes Ziel, aus den Freien Wählern eine richtige Partei zu machen.
Weitere zwei Jahre später sitzen die Freien Wähler im Münchner Landtag, mit 10,2 Prozent. Aiwanger wird Fraktionsvorsitzender, bald nicht unumstritten, aber bis heute offenbar unangreifbar. Mit 96,6 Prozent wurde er jüngst als Landesvorsitzender bestätigt. Ergebnisse, von denen selbst CSU-Chefs nur noch träumen können. Dazu 25 Prozent Erststimmen bei der Landtagswahl 2018. Und nun auch noch das Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten und bayerischen Wirtschaftsministers. Wie nebenbei hat der Mann mit dem niederbayerischen Tonfall dem Regierungspartner satte Zugeständnisse abgenötigt: keine weiteren Klinikschließungen in der Provinz und Kindertagesstätten auf Staatskosten. Und, zumindest bis auf Weiteres, Verzicht auf eine dritte Startbahn für den Münchner Großflughafen.
Schon vor der Regierungsbeteiligung hat die Aiwanger-Truppe nach dessen Worten die CSU vor sich hergetrieben: Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium, keine Straßenbaubeiträge von Häuslebauern. Und, vor allem: Zuspitzung der Auseinandersetzung um den Konflikt zwischen Großstädten und dem flachen Land.
Logisch, die Sache mit den Beiträgen für den Straßenausbau betrifft in München nur eine Minderheit von Leuten, die sich überhaupt ein Grundstück leisten können: „Freibier für Großkopferte“, lästerten sie bei der CSU. Und ob der Omnibus weiter in Großdingharting hält, ist auch keine Frage, die der CSU weiterhilft in ihrem eher verzweifelten Kampf ums urbane Publikum, das zunehmend Probleme hat, die bayerische Mundart zu verstehen. Genau an dieser Schnittstelle öffnet sich die weiß-blaue Marktlücke für die Freien Wähler. An Ideen kein Mangel „Ich lege keinen Wert darauf, Stiefelknecht der CSU zu sein. Wenn, dann geben wir ihnen die Sporen.“So hat Aiwanger noch vor dem jüngsten Landtagswahlerfolg mit 11,6 Prozent die Rollenverteilung beschrieben. Und gesagt, er habe so viele Ideen, dass die CSU „mit dem Mitschreiben“nicht nachkomme.
Eine dieser Ideen, die sie dem großen Koalitionspartner aufgezwungen haben, bereitet den Freien Wählern schon heftigen Ärger, ausgerechnet in der Provinz: Drei große Flutpolder, die am Unterlauf der bayerischen Donaustädte wie Deggendorf, Straubing und Passau vor Flutkatastrophen schützen sollten, werden nicht gebaut. Dafür gibt’s Beifall vom Bund Naturschutz und Schelte in den Hochwassergebieten, sogar von den Grünen.
Pikant, wenn ausgerechnet Grüne darauf anspielen, dass Aiwangers Lebensgefährtin (und Mutter seiner beiden Kinder) Landrätin ist im Landkreis Regensburg, wo auf Bauernland einer der riesigen Kurzzeitstauseen hinter bis zu neun Meter hohen Deichen entstehen sollte. Und vielleicht noch pikanter, dass es mal CSU-Umweltminister gab, die den Teufelskreislauf zwischen Zersiedlung der natürlichen Überschwemmungsflächen und dem aufwendigen Hochwasserschutz mit Beton und immer höheren Deichen ein Ende setzen wollten.
Gerade auf dem Feld einer an den betroffenen Menschen orientierten Umweltpolitik will der bekennende Jäger Aiwanger die CSU zum Jagen tragen. Wenn der öffentliche Nahverkehr in der Provinz funktioniert, sei das wichtiger als Großflughäfen. Und auch eine Antwort auf die schier unlösbare Wohnungsnot in den Metropolen. Noch im Wahlkampf nannte der Freie-Wähler-Chef das Raumfahrtprogramm „Bavarian One“, mit dem Ministerpräsident Markus Söder punkten wollte, „Bavarian Größenwahn“. Wohl wissend, dass seine Partei im Hightech-Speckgürtel der Landeshauptstadt ohnehin kaum Chancen hat.
So gesehen ist die Koalitionsregierung auch eine womöglich gelungene Arbeitsteilung. Aiwanger und seine Freien Wähler stehen dabei fürs ländlich-konservative Lebensgefühl, die CSU hingegen für den schwer zu gewinnenden Wettbewerb mit dem zunehmend grünen Lebensgefühl in den Großstädten. Spannend dabei ist auch die Frage, ob die Freien Wähler die AfD in Bayern klein halten können. Im Wahlkampf stand Aiwanger auf diesem Feld unter verschärfter PopulismusBeobachtung. Aber obwohl er auch seine Bierzeltreden ganz ohne Manuskript hält, sind ihm selbst bei der Flüchtlingspolitik Entgleisungen nicht nachzusagen.
„Das Kleine, Regionale, Überschaubare ist in vielen Fällen die bessere Lösung“, sagt Aiwanger gern. Oder dass AfD-Wähler am Ende „Rote und Grüne an die Macht bringen“. Genauso sicher ist: Dem Mann steht der Sinn nach Höherem. Auch als Bundesvorsitzender seiner im Bund bisher fast bedeutungslosen Partei. Und die Widerstände ähneln denen, die es auch in Bayern gab, bevor Aiwanger die Macht an sich riss.
Im Hintergrund steht immer die Frage, ob Freie Wähler den Unionsparteien auf Landes- und Bundesebene gefährlich werden dürfen? Oder ob dies ihre kommunalpolitische Stärke gefährdet? Baden-Württembergs Freie Wähler haben wegen dieses Konflikts Aiwangers Bundesvereinigung verlassen. Kritik an „Ein-Mann-Schau“ Auch unter denen, die geblieben sind, sprechen viele von einer „EinMann-Schau“. Und davon, dass der Niederbayer keine Talente neben sich dulde. Aber er weiß Talente zu nützen – wie die CSU-Rebellin Gabriele Pauli, einst Symbolfigur für den Sturz des CSU-Ministerpräsidenten Edmund Stoiber. 2008 zog die bundesweit bekannte Landrätin an Aiwangers Seite für die Freien Wähler in den Landtag. Ein Jahr später musste sie auf Aiwangers Betreiben die Fraktion verlassen.
Und, ach ja, auch Bernd Lucke war mal bei den Freien Wählern, bevor er im Streit mit Aiwanger die AfD gründete. Zu Überläufern aus den Unionsparteien wird dem FW-Chef seitdem ein gestörtes Verhältnis nachgesagt. Obwohl er den Schwarzen doch nur beim besseren Regieren helfen will.
„Ich lege keinen Wert darauf, Stiefelknecht der CSU zu sein.“ Hubert Aiwanger vor dem Erfolg bei der Landtagswahl mit 11,6 Prozent „Das Kleine, Regionale, Überschaubare ist in vielen Fällen die bessere Lösung.“ Hubert Aiwanger, stellvertretender bayerischer Ministerpräsident