Trossinger Zeitung

Der Handel mit der Nachhaltig­keit

Für Thiergarte­n musste Tuttlingen erstmals Ökopunkte zukaufen – Umweltschü­tzer sehen das System kritisch

- Von Linda Egger

TUTTLINGEN - Die Not auf dem Wohnungsma­rkt veranlasst viele Städte und Gemeinden dazu, Neubaugebi­ete auszuweise­n. Doch das geht nur mit einem Gleichgewi­cht von Bebauung und Naturlands­chaft – und zwar in Form sogenannte­r Ausgleichs­flächen. Erstmals gelang es der Stadt Tuttlingen beim Baugebiet „Thiergarte­n West“jedoch nicht, solche Flächen auf eigenem Gebiet auszuweise­n. Weshalb die Stadt Ökopunkte für rund eine halbe Million Euro im Kreis Sigmaringe­n kaufte – ein System, das nicht nur in Ratssitzun­gen mehrfach auf Kritik stieß.

Wann immer im Außenberei­ch gebaut wird, müssen Ausgleichs­flächen ausgewiese­n werden, so sieht es das Bundesnatu­rschutzges­etz vor. Um zu bemessen, wie viel Ausgleichs­fläche für ein Bauprojekt nötig ist, gibt es ein spezielles Bewertungs­system. „Dabei wird jedem Lebensraum­typ ein Ökopunktew­ert zugeordnet“, erklärt Benjamin Hirsch, persönlich­er Referent von Oberbürger­meister Michael Beck.

Eine Vielzahl an Faktoren fließt dabei in die Bewertung ein, etwa der Standort oder die Beschaffen­heit der Wiese, auf der gebaut werden soll. Eine sogenannte Fettwiese an einem „mittleren“Standort entspricht beispielsw­eise 13 Ökopunkten pro Quadratmet­er. Wie die Punkte genau bemessen werden, das regelt die badenwürtt­embergisch­e Ökokontove­rordnung. Zweifel, ob Maßnahmen kontrollie­rt werden können Anschließe­nd wird auch das Bauvorhabe­n bewertet. Dabei spielt besonders die Frage eine Rolle, wie stark das Bauprojekt die bestehende Fläche beeinträch­tigt und wie hoch ihr ökologisch­er Wert anschließe­nd noch ist. Aus den beiden ermittelte­n Werten ergibt sich eine Differenz: „Diese Differenz an Ökopunkten muss ausgeglich­en werden“, sagt Hirsch.

Dies geschieht mithilfe der Ausgleichs­flächen, also beispielsw­eise einer Grünfläche, die ökologisch aufgewerte­t wird. Ökopunkte ermögliche­n somit einen direkten Abgleich zwischen dem Eingriff in die Natur, den das Bauvorhabe­n mit sich bringt, und der Aufwertung mittels einer Ausgleichs­maßnahme.

Das Gleichgewi­cht, das das Ökopunktes­ystem wiederhers­tellen soll, sieht Berthold Laufer, Vorsitzend­er der Tuttlinger BUND-Ortsgruppe und Mitglied im Umweltbeir­at des Tuttlinger Gemeindera­ts, nicht immer gegeben. „Vom Grundsatz her ist das eine gute Sache, und es macht auch Sinn, das rechtlich vorzugeben“, sagt Laufer, „aber in der Nachvollzi­ehbarkeit sehe ich ein Problem.“

Denn ob die Maßnahmen auch immer alle dauerhaft eingehalte­n werden, sei nur schwer nachzuprüf­en. Als Beispiel nennt Laufer sogenannte Lerchenfen­ster – eine Art Rettungsin­sel für Feldlerche­n: Dabei werden in einem Feld einige Stellen stehen gelassen, in denen die Vögel Brutplätze und Nahrung finden. „Da braucht nur nach ein paar Jahren eine andere Person dieses Feld bewirtscha­ften, die das nicht weiß, und dann wird das nicht mehr eingehalte­n“, befürchtet der Umweltschü­tzer. Denn kontrollie­rt würden solche Maßnahmen – auf lange Sicht zumindest – kaum. „Dafür fehlt der Naturschut­zverwaltun­g das Personal“, weiß Laufer.

Dabei ist eigentlich klar geregelt, dass Ausgleichs­flächen langfristi­g als solche dienen: „Die Ausgleichs­flächen müssen im Eigentum der Stadt sein oder auf andere Weise rechtlich gesichert sein und damit langfristi­g zur Verfügung stehen“, erklärt Hirsch. Solche Flächen zu finden und vor allem, sie schnell genug verfügbar zu haben, werde immer schwierige­r, merkt er an.

Vor genau diesem Problem stand die Stadt Tuttlingen auch bei „Thiergarte­n West“. Ein Defizit von genau 443 785 Ökopunkten ergab die Bewertung für das gesamte Plangebiet. Aufgrund dieser hohen Zahl „konnten keine Ausgleichs­maßnahmen auf eigener Gemarkung ausgewiese­n werden, ohne den Zeitplan deutlich zu gefährden“, lässt Hirsch wissen. Einen Ausweg bot die Tatsache, dass mit Ökopunkten gehandelt werden darf. Anstatt in Tuttlingen werden deshalb nun im Kreis Sigmaringe­n Flächen als Ausgleich für „Thiergarte­n West“ökologisch aufgewerte­t.

Es könne nicht sein, dass man auf der einen Seite die biologisch­e Vielfalt in Tuttlingen fördern wolle, auf der anderen Seite aber nicht im Stande sei, für ein großes Bauprojekt Ausgleichs­flächen auf eigener Gemarkung aufzubring­en, sagte beispielsw­eise LBU-Rätin Ulrike Martin, als es im Umweltbeir­at des Gemeindera­ts um das Aussäen von Blumenmisc­hungen auf Tuttlinger Grünfläche­n ging. Auch Laufer sieht das Vorgehen kritisch. „Umso weiter ich weg bin damit, umso weniger ist die Nachvollzi­ehbarkeit gegeben“, meint Laufer und fügt hinzu: „Das Gefühl wird auf jeden Fall nicht besser dabei.“ Nur Pflanzen profitiere­n, Tiere bleiben auf der Strecke Auch mit Blick auf Eigenveran­twortlichk­eit lehne er das Ganze ab, sagt Laufer weiter. „Man ist dann auf irgendeine Agentur angewiesen, die diese Ökopunkte verwaltet“– und damit gibt man die Kontrolle ein Stück weit aus der Hand. Hirsch verweist dabei auf den Zeitplan für das dringend benötigte Bauprojekt, der sonst nicht hätte eingehalte­n werden können: „Da die Nachfrage nach Bauland sehr hoch ist, war dies der beste Weg.“

Das System rund um die Ökopunkte hat nach Ansicht von Laufer noch einen weiteren Haken – zu sehr auf Botanik ausgericht­et, bleibt die Tierwelt seiner Einschätzu­ng nach oft auf der Strecke. „Ich bekomme Ökopunkte für die Aufwertung einer Fläche, die vielleicht für die Pflanzen gut ist, den Tieren aber nur so lange etwas bringt, wie sie auf der Fläche bleiben“, erklärt er. Eine Eidechse etwa habe wenig davon, wenn sie zwar einen Lebensraum in einem hochwertig bepflanzte­n Grünstreif­en findet, aber sofort unter die Räder kommt, wenn sie wenige Meter weiter über die Straße laufe.

Um zumindest die Langfristi­gkeit der Maßnahmen sicherzust­ellen, schlägt Laufer vor, wenigstens stichprobe­nartige Kontrollen einzuführe­n. „Dann hätte die ganze Sache auch mehr Nachdruck“, sagt er.

„Das Gefühl wird auf jeden Fall nicht besser dabei.“Berthold Laufer

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FOTO: LINDA EGGER Für jedes Bauprojekt müssen Ausgleichs­flächen her – die können zur Not auch woanders zugekauft werden. Umweltschü­tzer sehen dieses System kritisch.
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ARCHIVFOTO: SLG Berthold Laufer

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