Der Handel mit der Nachhaltigkeit
Für Thiergarten musste Tuttlingen erstmals Ökopunkte zukaufen – Umweltschützer sehen das System kritisch
TUTTLINGEN - Die Not auf dem Wohnungsmarkt veranlasst viele Städte und Gemeinden dazu, Neubaugebiete auszuweisen. Doch das geht nur mit einem Gleichgewicht von Bebauung und Naturlandschaft – und zwar in Form sogenannter Ausgleichsflächen. Erstmals gelang es der Stadt Tuttlingen beim Baugebiet „Thiergarten West“jedoch nicht, solche Flächen auf eigenem Gebiet auszuweisen. Weshalb die Stadt Ökopunkte für rund eine halbe Million Euro im Kreis Sigmaringen kaufte – ein System, das nicht nur in Ratssitzungen mehrfach auf Kritik stieß.
Wann immer im Außenbereich gebaut wird, müssen Ausgleichsflächen ausgewiesen werden, so sieht es das Bundesnaturschutzgesetz vor. Um zu bemessen, wie viel Ausgleichsfläche für ein Bauprojekt nötig ist, gibt es ein spezielles Bewertungssystem. „Dabei wird jedem Lebensraumtyp ein Ökopunktewert zugeordnet“, erklärt Benjamin Hirsch, persönlicher Referent von Oberbürgermeister Michael Beck.
Eine Vielzahl an Faktoren fließt dabei in die Bewertung ein, etwa der Standort oder die Beschaffenheit der Wiese, auf der gebaut werden soll. Eine sogenannte Fettwiese an einem „mittleren“Standort entspricht beispielsweise 13 Ökopunkten pro Quadratmeter. Wie die Punkte genau bemessen werden, das regelt die badenwürttembergische Ökokontoverordnung. Zweifel, ob Maßnahmen kontrolliert werden können Anschließend wird auch das Bauvorhaben bewertet. Dabei spielt besonders die Frage eine Rolle, wie stark das Bauprojekt die bestehende Fläche beeinträchtigt und wie hoch ihr ökologischer Wert anschließend noch ist. Aus den beiden ermittelten Werten ergibt sich eine Differenz: „Diese Differenz an Ökopunkten muss ausgeglichen werden“, sagt Hirsch.
Dies geschieht mithilfe der Ausgleichsflächen, also beispielsweise einer Grünfläche, die ökologisch aufgewertet wird. Ökopunkte ermöglichen somit einen direkten Abgleich zwischen dem Eingriff in die Natur, den das Bauvorhaben mit sich bringt, und der Aufwertung mittels einer Ausgleichsmaßnahme.
Das Gleichgewicht, das das Ökopunktesystem wiederherstellen soll, sieht Berthold Laufer, Vorsitzender der Tuttlinger BUND-Ortsgruppe und Mitglied im Umweltbeirat des Tuttlinger Gemeinderats, nicht immer gegeben. „Vom Grundsatz her ist das eine gute Sache, und es macht auch Sinn, das rechtlich vorzugeben“, sagt Laufer, „aber in der Nachvollziehbarkeit sehe ich ein Problem.“
Denn ob die Maßnahmen auch immer alle dauerhaft eingehalten werden, sei nur schwer nachzuprüfen. Als Beispiel nennt Laufer sogenannte Lerchenfenster – eine Art Rettungsinsel für Feldlerchen: Dabei werden in einem Feld einige Stellen stehen gelassen, in denen die Vögel Brutplätze und Nahrung finden. „Da braucht nur nach ein paar Jahren eine andere Person dieses Feld bewirtschaften, die das nicht weiß, und dann wird das nicht mehr eingehalten“, befürchtet der Umweltschützer. Denn kontrolliert würden solche Maßnahmen – auf lange Sicht zumindest – kaum. „Dafür fehlt der Naturschutzverwaltung das Personal“, weiß Laufer.
Dabei ist eigentlich klar geregelt, dass Ausgleichsflächen langfristig als solche dienen: „Die Ausgleichsflächen müssen im Eigentum der Stadt sein oder auf andere Weise rechtlich gesichert sein und damit langfristig zur Verfügung stehen“, erklärt Hirsch. Solche Flächen zu finden und vor allem, sie schnell genug verfügbar zu haben, werde immer schwieriger, merkt er an.
Vor genau diesem Problem stand die Stadt Tuttlingen auch bei „Thiergarten West“. Ein Defizit von genau 443 785 Ökopunkten ergab die Bewertung für das gesamte Plangebiet. Aufgrund dieser hohen Zahl „konnten keine Ausgleichsmaßnahmen auf eigener Gemarkung ausgewiesen werden, ohne den Zeitplan deutlich zu gefährden“, lässt Hirsch wissen. Einen Ausweg bot die Tatsache, dass mit Ökopunkten gehandelt werden darf. Anstatt in Tuttlingen werden deshalb nun im Kreis Sigmaringen Flächen als Ausgleich für „Thiergarten West“ökologisch aufgewertet.
Es könne nicht sein, dass man auf der einen Seite die biologische Vielfalt in Tuttlingen fördern wolle, auf der anderen Seite aber nicht im Stande sei, für ein großes Bauprojekt Ausgleichsflächen auf eigener Gemarkung aufzubringen, sagte beispielsweise LBU-Rätin Ulrike Martin, als es im Umweltbeirat des Gemeinderats um das Aussäen von Blumenmischungen auf Tuttlinger Grünflächen ging. Auch Laufer sieht das Vorgehen kritisch. „Umso weiter ich weg bin damit, umso weniger ist die Nachvollziehbarkeit gegeben“, meint Laufer und fügt hinzu: „Das Gefühl wird auf jeden Fall nicht besser dabei.“ Nur Pflanzen profitieren, Tiere bleiben auf der Strecke Auch mit Blick auf Eigenverantwortlichkeit lehne er das Ganze ab, sagt Laufer weiter. „Man ist dann auf irgendeine Agentur angewiesen, die diese Ökopunkte verwaltet“– und damit gibt man die Kontrolle ein Stück weit aus der Hand. Hirsch verweist dabei auf den Zeitplan für das dringend benötigte Bauprojekt, der sonst nicht hätte eingehalten werden können: „Da die Nachfrage nach Bauland sehr hoch ist, war dies der beste Weg.“
Das System rund um die Ökopunkte hat nach Ansicht von Laufer noch einen weiteren Haken – zu sehr auf Botanik ausgerichtet, bleibt die Tierwelt seiner Einschätzung nach oft auf der Strecke. „Ich bekomme Ökopunkte für die Aufwertung einer Fläche, die vielleicht für die Pflanzen gut ist, den Tieren aber nur so lange etwas bringt, wie sie auf der Fläche bleiben“, erklärt er. Eine Eidechse etwa habe wenig davon, wenn sie zwar einen Lebensraum in einem hochwertig bepflanzten Grünstreifen findet, aber sofort unter die Räder kommt, wenn sie wenige Meter weiter über die Straße laufe.
Um zumindest die Langfristigkeit der Maßnahmen sicherzustellen, schlägt Laufer vor, wenigstens stichprobenartige Kontrollen einzuführen. „Dann hätte die ganze Sache auch mehr Nachdruck“, sagt er.
„Das Gefühl wird auf jeden Fall nicht besser dabei.“Berthold Laufer