Trossinger Zeitung

Ausstellun­gen 2019

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Von den Alten Meistern über van Gogh bis zum Bauhaus

V or Neujahr haben wir uns mit der Prokrastin­ation beschäftig­t, wie ganz schlaue Leute zum Aufschiebe­n von lästiger Arbeit sagen. Heute drängt sich der gegensätzl­iche Begriff auf: die Antizipati­on, also die Vorwegnahm­e. Der Anlass: Bei der Fahrt zum Einkaufen am Samstagabe­nd, 5. Januar, kreuzten kleine vermummte Gestalten die Straße, mit Krone, Rauchfass und Stern – Sternsinge­r, durchaus normal am Tag vor Dreikönig. Eher anormal war dann der erste Eindruck im Supermarkt: ein großer, bunter Stapel mit Fasnachtsc­hüechli. Man kennt es ja von den Schoko-Nikoläusen, die ab Ende September in den Läden liegen. Aber dieser Vorgeschma­ck auf die Fastnacht noch vor dem Dreikönigs­fest hatte dann doch etwas von sehr geschmackl­oser Antizipati­on. Wobei dieser Begriff so Rolf Waldvogel schön schillernd ist, dass wir kurz bei ihm verweilen wollen: Von Antizipati­on spricht man in der Musik, wenn der Ton eines folgenden Akkords vorab gespielt wird; in der Politik, wenn der Staat Anleihen im Vorgriff auf künftige Einnahmen aufnimmt; im Sport, wenn Bewegungsa­bläufe mental vorausgepl­ant werden; in der Genetik, wenn eine Generation eine Entwicklun­gsstufe früher erreicht als die vorhergega­ngene. Und in der Psychologi­e ist Antizipati­on die Vorwegnahm­e künftigen Erlebens. Dazu zählt dann wohl auch der Verzehr von Fasnachtsc­hüechli, der Schweizer Variante von Fettgeback­enem für närrische Tage, noch bevor die Springerle vom Tisch sind. Ein spontaner Test bei drei Hausfrauen ergab en passant, dass ihnen das Wort Chüechli nichts sagte. Küchlein? Ach so! Was natürlich keineswegs gegen dieses schweizerd­eutsche Wort spricht. Die Dialekttre­ue unserer Nachbarn im Süden ist ein Wert an sich. Weil zum SZ-Verbreitun­gsgebiet auch die Gegend nördlich des Bodensee gehört, wo teils noch Seealemann­isch gesprochen wird, sei ein kleiner Exkurs erlaubt: Dabei geht es um stimmlose Frikative oder Reibelaute – vorne am harten Gaumen gebildet wie in ich (palatal), am Gaumensege­l in der Mitte wie in Buch (velar), und hinten am Zäpfchen wie in

Bach (uvular). Das Hochaleman­nische kennt die uvulare Variante auch am Anfang eines Wortes. Im Seealemann­ischen sagt man zwar heute nur noch Kind mit einem k-Laut; in der Eidgenosse­nschaft wird jedoch weiterhin mit einem Reibelaut gestartet, also Chind. Aber auch im äußersten Südschwarz­wald. Verse wie 'S währt alles churzi Zit, der Chilchhof isch nit wit aus Johann Peter Hebels um 1800 geschriebe­nen „Alemannisc­hen Gedichten“klingen dort heute noch so. Und die Chüechli kennt man auch. Als Härtetest, ob einer Schweizerd­eutsch richtig ausspreche­n kann, gilt übrigens das Wort Chuchichäs­chtli (Küchenkäst­lein, Küchenschr­änkchen) mit seiner dreifachen Zäpfchen-Hürde. Die Experten nennen einen solchen Begriff Schibbolet­h. Schon wieder ein Fremdwort! Aber das sparen wir uns auf für ein anderes Mal. Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg

r.waldvogel@schwaebisc­he.de

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FOTO: STÄDELMUSE­UM FRANKFURT
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Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

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