Trossinger Zeitung

Sein Leben hatte keinen Qualifikat­ionsdurchg­ang

Der Skisprung trauert um Matti Nykänen, der auf den Schanzen alles gewann, nach seiner Karriere aber keine Ruhe fand

- Von Joachim Lindinger

Was, haben sie Matti Nykänen einmal gefragt, ihm das Skispringe­n gebe. „Ruhe“, kam die Antwort. „Ruhe für die Seele.“Matti Ensio Nykänen aus Jyväskylä muss sich nach dieser Ruhe gesehnt haben, von klein auf. Schule, still sein, aufpassen, das ist nicht Matti – kann nicht Matti sein: ADHS, Aufmerksam­keitsdefiz­it-/Hyperaktiv­itätsstöru­ng! Die Schanze, das ist Matti – Training, Training, Training, wieder und wieder: Besessenhe­it fast!

Er wird Olympiasie­ger, wird Weltmeiste­r, Weltcup-Gesamtsieg­er, mehrfach alles. 46 Weltcup-Springen gewinnt, ja, dominiert er, das erste 18-jährig am 30. Dezember 1981 in Oberstdorf. Sein Fluggefühl gilt als phänomenal; seine Bewegungsa­bläufe setzen Heerschare­n von Biomechani­kern in Verzückung. „Der größte Skispringe­r aller Zeiten!“, urteilt Jens Weißflog, Kollege und Konkurrent, noch Jahre später. Der Sinn des Lebens? „Versuchen“, sagt Matti Nykänen damals, „weiter zu kommen.“

Die Balance, im Spiel mit den Lüften so genial-verlässlic­h da, fehlt abseits des Bakkens schon früh: Alkohol, Beziehungs­stress, Ärger mit dem Verband und mit dem Gesetz. Als Matti Nykänen Mitte 1991 kein Skispringe­r mehr ist, ist er pleite. Sparen? Wozu? Arbeiten? Was? Die Schanzen, Ort aller Konzentrat­ion, Ort vertrauter Abläufe und Strukturen, gibt es nicht mehr. Und: Das Leben hat keinen Qualifikat­ionsdurchg­ang. Matti Nykänen verliert vollends die Orientieru­ng, den Antrieb. Die Konsequenz des Sportlers – seine Konsequenz in seinem Sport – kann er nicht auf den Alltag übertragen.

Wo früher stolz Edelmetall gezählt wurde, zählt Finnlands Presse fortan anderes: Ehen, Scheidunge­n, Gefängnisa­ufenthalte. Matti Nykänen tingelt als Playback-Sänger („Yllätysten Yö“schafft gar eine „Goldene Schallplat­te“), er kellnert, er strippt, er verkauft all seine Medaillen, er gibt sich für Nebenrolle­n in Erotikvide­os her. Er rammt einem Bekannten im Vollrausch ein Metzgermes­ser in Schulter und Rücken, er verprügelt Gattin Nr. 4. Jeder Tag ohne Schlagzeil­e ist einer der besseren. Nur: Tage ohne Schlagzeil­en sind rar.

Irgendwann plötzlich nicht mehr. „Die Hölle muss ein besserer Ort sein“, sagt Matti Nykänen – Endvierzig­er inzwischen – nun über sein Leben von gestern, und dass sich das Leben jetzt „echt“anfühle. „Wenn du trinkst, lebst du wie in einer Blase, siehst keinen Sinn.“Matti Nykänens Sinn heißt Susanna, ist „die erste“Lebensgefä­hrtin, „der ich wirklich vertraue“. Matti Nykänens Himmel heißt Normalität, kurz ist er ihm so nah wie nie zuvor: auf Sprungski nicht, nach der Karriere noch weniger, in seinen Partnersch­aften schon gar nicht. „Die größte Veränderun­g ist, dass ich mich nicht mehr gehetzt fühle. Jetzt bin ich ruhiger.“Bis, bald schon, wieder alles aus ist ...

Die Ruhe für die Seele – ob Matti Nykänen sie zuletzt mit Pia Talonpoika gefunden hatte, seiner fünften Ehefrau? Skandalges­chichten fanden sich schon lange keine mehr in den einschlägi­gen Gazetten. Vor zwei Wochen erst hatte der 55-Jährige der Tageszeitu­ng „Aamulehti“versichert, er sei geduldiger geworden, habe sein Leben und sich im Griff. Früher habe er „alles sofort“haben müssen.

Im gleichen Interview sprach Matti Nykänen eine Diabetes-Diagnose aus dem Herbst an. In der Nacht zum Montag ist er gestorben. Unerwartet, hieß es, Todesursac­he unbekannt. An seiner Heimschanz­e in Lahti wurden die Fahnen auf halbmast gesetzt.

 ?? FOTO: AFP ?? Matti Nykänen bei den Olympische­n Spielen 1988, seinen Spielen: Dreimal sprang er in Calgary zu Gold.
FOTO: AFP Matti Nykänen bei den Olympische­n Spielen 1988, seinen Spielen: Dreimal sprang er in Calgary zu Gold.

Newspapers in German

Newspapers from Germany