Baden-Württemberg ist wichtiger als Theresa May
Rede im Stuttgarter Landtag statt Brexit-Verhandlungsrunde: EU-Kommissionspräsident Juncker besucht Baden-Württembergs Landesparlament
STUTTGART - Gerade hat Jean-Claude Juncker noch mit Journalisten gescherzt, plötzlich wirkt er sehr müde. Das Wort Brexit lässt das Lächeln aus dem Gesicht des 64-jährigen Luxemburgers weichen. Eigentlich sei er 2014 nach Brüssel gegangen, um etwas aufzubauen. „Jetzt bin ich mit dem Abriss beschäftigt“, sagt der EUKommissionschef bei seinem Besuch am Dienstagabend im Landtag von Baden-Württemberg.
Der Austritt der Briten aus der Europäischen Union verfolgt ihn nach Stuttgart. Großbritanniens Premierministerin Theresa May hatte um ein weiteres Treffen am Dienstag gebeten. Stattdessen steht der Kommissionschef im Foyer des Landtags. Vor ihm sitzen 600 Gäste – darunter Abgeordnete, Minister, Ex-Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) und sein Nachfolger im Amt Günther Oettinger (CDU). Oder auch „mein Günther“, wie Juncker seinen EU-Haushaltskommissar nennt. Der sei übrigens inzwischen der englischen Sprache mächtig, scherzt Juncker.
Dass er hier ist statt in Brüssel, begründet Juncker mit seiner Bringschuld an Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne): „Weil ich den Termin hier schon mal verschoben habe, hab’ ich Theresa May gesagt, dass ich Wichtigeres zu tun habe.“Das Treffen mit ihr ist auf Mittwoch verschoben. Einen Durchbruch im Ringen um die künftige Beziehung der Briten zur Staatengemeinschaft scheint er nicht zu erwarten. „Es bewegt sich nicht genug“, sagt Juncker und bezeichnet den Brexit als „tragischste Nachkriegsentscheidung, die wir Politiker getroffen haben.“
Juncker weiß um die Bedeutung Baden-Württembergs für Europa – und umgekehrt. Als eigenständiges Land wäre es eins der größten in der Staatengemeinschaft. Der Brexit werde am Land sicher nicht spurlos vorbeigehen. Dann outet er sich als Fan des Südwestens. Wochenenden verbringe er häufig auf dem Schliffkopf im Nationalpark Schwarzwald, im Winter ziehe es ihn zum Urlaub nach Hinterzarten. Und wer eine Nachhilfestunde zum europäischen Gedanken brauche, solle das neue 29seitige Europaleitbild der Landesregierung lesen. „Auch wenn die Baden-Württemberger nach Eigenbeschreibung kein Hochdeutsch können – Europa können sie“, sagt er.
Juncker bedient in seiner Rede eine Bandbreite von Emotionen. Einmal scherzt er, dass der europäische Studentenaustausch „Erasmus“das „größte kontinental wirkende Libido-Programm“sei. Es habe 19 Millionen junge Menschen zum Studium in ein anderes Land gebracht – dabei seien eine Million Kinder entstanden. Jeder Euro, der in das Programm fließe, helfe dabei, dass sich Europäer unterschiedlicher Länder besser kennenund lieben lernten. Deshalb habe „sein Günther“dem Programm 30 Millionen Euro beigemessen.
Kurz darauf schlägt das Heitere in Nachdenklichkeit um. Juncker berichtet von seinem Vater, der gegen seinen Willen deutscher Soldat im Zweiten Weltkrieg gewesen sei. „Diejenigen, die 1945 aus den Frontabschnitten und aus den KZs in ihre zerstörten Dörfer zurückkehrten, haben aus dem Nachkriegsgebet ,Nie mehr Krieg’ ein politisches Programm gemacht“, sagt Juncker mit brechender Stimme. Wer die Staatengemeinschaft abschaffen wolle, dem rate er, einen Soldatenfriedhof zu besuchen.
Die Dinge in der EU seien nicht so krumm, wie sie scheinen, sagt Juncker zum Abschluss und endet mit einem Verweis auf die Europawahl Ende Mai. „Damit sie nicht krummer werden: Gehen Sie zur Wahl.“