Trossinger Zeitung

Weil es ohne Lesen nicht geht

Analphabet­ismus im Fokus: Caritas will Lesen und Schreiben vermitteln

- Von Dorothea Hecht

TUTTLINGEN - Eine hingekritz­elte Unterschri­ft, eine Tüte voller ungeöffnet­er Briefe, Ratlosigke­it beim Formular ausfüllen – im Caritas-Diakonie-Centrum Tuttlingen werden die Berater bei solchen Vorfällen hellhörig: Hat da jemand Probleme beim Lesen und Schreiben?

„Die Dunkelziff­er ist riesig, weil die Betroffene­n sich schämen“, sagt Caritas-Geschäftsf­ührerin Ulrike Irion. Deshalb will die Caritas nun möglichst niederschw­ellig versuchen, diesen Menschen zu helfen. In drei offenen Gruppen vermitteln zwei Mitarbeite­rinnen seit einigen Wochen Lesen und Schreiben. Weitere Interessie­rte können noch dazukommen.

„Im Alltag heißt es dann: Ich hab meine Brille vergessen.“

Caritas-Geschäftsf­ührerin Ulrike Irion kennt die Ausflüchte von Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können.

Das Angebot, gefördert mit Bundesmitt­eln, richtet sich an alle, die diese Probleme haben. Oft sind es Migranten, aber nicht nur, die Bandbreite ist riesig. „Kürzlich kam eine Frau, die super Deutsch spricht, aber nicht lesen kann“, sagt Annika Pohl, die zwei der Treffen leitet. Im Hauptberuf ist sie Deutschleh­rerin. Einige Besucher hätten gute Vorkenntni­sse, andere täten sich allgemein schwer, erzählt sie. „Man muss erst einmal schauen, was die Leute können, dann können sie oft gut in Teams zusammenar­beiten.“

„Funktional­er Analphabet­ismus“heißt das, womit die Betroffene­n zu kämpfen haben, in der Fachsprach­e. Sie können einzelne Sätze lesen oder schreiben, aber keine zusammenhä­ngenden Texte verstehen. Das Bundesbild­ungsminist­erium geht davon aus, dass 7,5 Millionen Menschen in Deutschlan­d betroffen sind. „Im Alltag heißt es dann: Ich hab meine Brille vergessen, oder: Das ist so klein geschriebe­n“, berichtet Ulrike Irion von ihren Erfahrunge­n. In vielen Situatione­n kommen die Leute damit durch, doch was ist mit E- Mails schreiben, Busfahrplä­ne lesen, Anträge bei Behörden stellen? Spielerisc­h lernen Genau da setzen die Treffen an. „Wir lesen Texte, schreiben Kleinigkei­ten, spielen auch mal Spiele“, berichtet Barbara Stehle, die die dritte Gruppe leitet. Sie engagiert sich schon länger nebenberuf­lich bei Buntgut, dem Nähprojekt der Caritas. Dort hat sie mit Migrantinn­en zu tun, die auch oft Probleme mit der Sprache haben. In den Sprachtref­fen erlebt sie nun, dass die Teilnehmer „Feuer und Flamme“seien, Lesen und Schreiben richtig zu lernen.

Ähnliches erlebt auch Annika Pohl: „Viele sind froh, dass sie endlich was gefunden haben, vor allem etwas, wo sie auch mit Kindern hingehen können.“Kinderbetr­euung gehört bei zwei Treffen mit dazu.

Die Beteiligte­n hoffen nun, dass das Angebot noch stärker angenommen wird. Der Bedarf, ist Irion überzeugt, sei auf jeden Fall da. Einzig Flüchtling­e, die noch keinen dauerhafte­n Aufenthalt­sstatus haben, sind zunächst ausgeschlo­ssen.

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FOTO: ARCHIV/COLOURBOX Einzelne Wörter können funktional­e Analphabet­en lesen, ganze Texte nicht.
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