Wenn es alleine nicht mehr geht
In Deutschland werden mehr als 1,3 Millionen Menschen gesetzlich betreut – und Jahr für Jahr werden es mehr
PFULLENDORF - Angela Evers strahlt, als sie die Tür öffnet: Liane Schmid vom SKM-Betreuungsverein in Sigmaringen ist da, sie ist der 88Jährigen eine große Hilfe. Als die Rentnerin aus Pfullendorf vor zwei Jahren sowohl ihren Mann als auch ihren Sohn verlor, stand sie plötzlich ganz alleine da und wurde zunehmend unsicher. Den Haushalt erledigt sie zwar noch alleine, aber mit der Post von Ämtern, von der Bank oder ihrer Krankenversicherung fühlt sie sich überfordert. Die Mitarbeiter der Sozialstation, die sich um sie kümmerten, regten eine staatliche Betreuung an – auch im Hinblick auf die Zukunft.
Angela Evers war von der Idee zunächst alles andere als begeistert, die alte Dame wollte Herrin über ihr Leben bleiben. „Wird man dann gleich mundtot gemacht und für unmündig erklärt?“, fragte sie, ließ sich dann aber beschwichtigen durch die Versicherung, dass es sich um eine Zusammenarbeit in Absprache handele, die vor allem Orientierung gebe. Drei Monate später hatte Schmid alles geordnet und organisiert: Sozialhilfe, Pflegeversicherung, Zuzahlungsbefreiung für Arzneimittel. Ihre Klientin ist erleichtert: „Ich bin sehr froh darum. Und ich habe jetzt jemanden, dem ich vertraue.“ Jedes Jahr 250 000 neue Fälle In Deutschland werden derzeit etwa 1,3 Millionen Menschen gesetzlich betreut – und es werden immer mehr. Jedes Jahr kommt fast eine viertel Million neuer Fälle hinzu. In mehr als drei Viertel dieser Fälle kümmern sich Angehörige oder ehrenamtliche Betreuer um die Betroffenen. Die restlichen Menschen, die nicht mehr alleine zurechtkommen, werden dem Verband freier Berufsbetreuer zufolge von einem der schätzungsweise 15 000 Betreuer unterstützt.
Nicolas Gethmann, der Direktor des Amtsgerichts Gengenbach, entscheidet darüber, ob und in welcher Form eine Betreuung eingerichtet wird. Da das Betreuungsrecht das Wohl der Betreuten sowie deren Selbstbestimmung und Menschenwürde in den Mittelpunkt stelle, müsse er sehr differenziert über Umfang und Länge der Betreuung entscheiden und einen passenden Betreuer bestellen. Kenntnis von neuen Fällen erhält er auch durch die Betroffenen selbst, aber vor allem von Angehörigen, Nachbarn, Ärzten, häuslichen Pflegediensten oder von Pflegeheimen. Um einen Fall beurteilen zu können, macht sich der Richter meist vor Ort in der Wohnung des zu Betreuenden ein eigenes Bild des Lebensumfelds. Das lässt auch den erfahrenen Betreuungsrichter oftmals nicht kalt: „Menschen können in großes Elend geraten, bevor eine Betreuungsanregung erfolgt. Die häuslichen Zustände sind dann manchmal auch bei einem kurzen Betreten der Wohnung kaum erträglich“, erzählt Gethmann. Gleichzeitig kann und darf er nur eingreifen, wenn der Wille des Menschen, betreut zu werden, offenkundig ist oder der Betroffene nicht in der Lage ist, seinen freien Willen unbeeinflusst von einer bestehenden Erkrankung oder Behinderung zu äußern und danach zu handeln. „Diese Abgrenzung ist nicht immer eindeutig. Besonders problematisch ist das, wenn ein Mensch psychisch krank ist, dies aber nicht einsieht“, sagt Gethmann. Er müsse immer erst mal einen Schritt zurücktreten und seine eigenen Vorstellungen hintenanstellen, um die Situation zu erfassen. „Auch wenn bestimmte Umstände aus meiner Sicht nicht als lebenswürdig erscheinen, so muss ich dennoch erst einmal versuchen, den Menschen in seiner Persönlichkeit zu erfassen. Braucht er wirklich Hilfe und Betreuung oder ist das sein selbst gewähltes Schicksal? Denn jeder hat auch ein Recht darauf, unglücklich zu sein“, sagt der Richter. Letzte Option: Berufsbetreuer Ordnet Gethmann nach einer sogenannten Anhörung eine Betreuung an, entscheidet er, welche Lebensbereiche betreut werden sollen. Der Richter kann aber auch die Gesamtbetreuung in allen Angelegenheiten anordnen. Steht der Umfang fest, bestellt Gethmann den passenden Betreuer. Dabei hält er eine Reihenfolge ein: Hat der Betroffene eine Wunschperson geäußert? Wenn nicht, sind die Angehörigen an der Reihe. Wenn es niemanden gibt, der sich dafür eignet, kommen die ehrenamtlichen Betreuer dran. Sollte auch darunter kein geeigneter Mensch sein, kommen die Berufs- und die Behördenbetreuer ins Spiel. Auch die Schwerpunkte in der Art der Betreuung spielen eine Rolle. Wird eher ein Kaufmann, eher ein Jurist oder eher eine medizinische Pflegekraft gebraucht? Meist werden die Richter bei den Betreuungsvereinen fündig.
Beim SKM-Betreuungsverein in Sigmaringen beraten und betreuen vier fest angestellte und 90 ehrenamtliche Betreuer durchschnittlich 70 bis 80 Fälle im Landkreis. Meist geht es bei ihrer Arbeit darum, einen Heimplatz zu finden, finanzielle Angelegenheiten wie Schulden, Versicherungen oder Rechnungen zu regeln oder ambulante Pflegedienste zu organisieren sowie ärztliche Angelegenheiten abzuwickeln und amtliche Anträge auszufüllen. „Der Umfang der Hilfe hängt von dem Betreuungsbescheid ab und davon, was der Mensch noch selbst tun kann. Es ist von Fall zu Fall unterschiedlich, wie weit der Betreuer eingreift“, sagt Alexander Teubl, der Leiter des Vereins, bei dem auch die Betreuerin der Seniorin Evers angestellt ist. Seine Mitarbeiter sind aber nicht nur für alte Menschen da. Süchte, Demenz, körperliche oder geistige Behinderungen – es gibt viele Gründe, weshalb Menschen Hilfe benötigen: „Da, wo Menschen die Kräfte fehlen, wo sie selbst nicht weiterkommen und Orientierung brauchen,
„Problematisch ist es, wenn ein Mensch psychisch krank ist, dies aber nicht einsieht.“Betreuungsrichter Nicolas Gethmann
helfen wir weiter“, formuliert der Sozialpädagoge die Aufgabe des Vereins. „Wir entscheiden individuell, welcher Betreuer zu welchem Fall passt. Die Ehrenamtlichen engagieren sich meist im Ruhestand und bringen spezifische Qualifikationen aus ihrem Berufsleben mit“, sagt Teubl. Die Berufsbetreuer, die die schwierigeren Fälle übernehmen, sind meist Sozialpädagogen.
Ein staatlich anerkanntes Berufsbild gibt es nicht. Wer Betreuer werden will, muss dies nur bei der regionalen Betreuungsbehörde oder dem Betreuungsgericht schriftlich bekunden. Dort wird entschieden, ob der Interessent geeignet ist. Obgleich Soft Skills wie Belastbarkeit, Integrität, Zuverlässigkeit und Konfliktfähigkeit erwünscht sind, ist die einzige faktische Voraussetzung ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis. Berufsbetreuer müssen zusätzlich einschlägige rechtliche, psychologische und beratende Kenntnisse vorweisen. Obgleich auch medizinisches Grundwissen bei ihnen vorausgesetzt wird, darf ein Betreuer nicht über Operationen, das Verabreichen von Psychopharmaka und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit des Betreuten entscheiden. Hier haben die Betreuungsgerichte das letzte Wort. Ebenso bei Grundstücksverkäufen, Wertpapiergeschäften oder Wohnungsauflösungen.
Eine engmaschige Kontrolle der Betreuer von staatlicher Seite gibt es nicht. Betreuer müssen dem Gericht einmal im Jahr einen Rechenschaftsbericht mit Rechnungslegung schicken, in dem steht, wie sich die Situation des Betreuten entwickelt hat. Dieser wird dann von einem Rechtspfleger geprüft. Falls ein großes Vermögen vorhanden ist, ist das Landgericht zuständig. Die Wohnung der Betreuten dürfen Betreuer alleine betreten. Um sich rechtlich abzusichern, tut dies Teubl allerdings nie, wenn der Betreute nicht anwesend ist. Aus Selbstschutz nimmt er immer eine zweite Person als Zeugen mit. „Betreuer sind Teil dieser Gesellschaft. Leider lässt sich da auch Betrug nie ganz ausschließen. Letztendlich geht es hier auch um Vertrauen“, sagt Gethmann. Deshalb verschafft er sich von jedem Betreuer, den er bestellt, im Vorfeld einen persönlichen Eindruck. „Wem dies zu unsicher ist, wer eine Vertrauensperson in seinem Umfeld hat und dem gesetzlichen Betreuungsverfahren für den Notfall vorbeugen will, sollte eine notarielle Vorsorgevollmacht verfassen“, rät der Richter. Nur in Württemberg gibt es die Besonderheit, dass Betreuung auch von den Bezirksnotaren angeordnet werden kann. Seit der Abschaffung des staatlichen Notarwesens Anfang 2018 sind diese bei den Amtsgerichten tätig.