Trossinger Zeitung

Telefonier­en gegen die Angst

Ein Verein begleitet Menschen am Telefon nach Hause – und ruft im Notfall die Polizei

- Von Sarah Schababerl­e

- An einer Fußgängera­mpel bemerkt sie ihn zum ersten Mal. Es ist ein später Winteraben­d kurz vor Weihnachte­n, und sie ist auf dem Weg nach Hause. Auf einem Christkind­lesmarkt in München hat sie mit Freunden Glühwein getrunken, anschließe­nd ist sie mit der U-Bahn zur Haltestell­e bei ihr um die Ecke gefahren. Beim Aussteigen macht ihr ein Mann die Tür auf, lässt ihr den Vortritt. Nun steht er hinter ihr an der Ampel, während sie darauf wartet, dass das grüne Männchen aufleuchte­t.

Er ist ihr so nah, dass er sie fast zu berühren scheint. „Mir kam das komisch vor, weil er so dicht bei mir stand“, erzählt die Frau, die anonym bleiben möchte, später. Aus der ersten Irritation wird bald Unwohlsein – der Mann folgt ihr weiter. Mit dem Blick auf ihr Handy bleibt sie deshalb stehen, um ihn vorbeizula­ssen. „Er hat sich immer wieder nach mir umgedreht“, sagt die 33-Jährige. „Ich bin kein Angsthase, aber das war schon seltsam. Ich war ganz allein.“

Ein Thema für viele Frauen

Es sind Situatione­n wie diese, vor denen sich viele Menschen fürchten. Auch Claudia Mayer kennt das beklemmend­e Gefühl, das sie vor allem dann beschleich­t, wenn sie im Dunkeln zu Fuß oder allein in Bus oder Bahn unterwegs ist. Die 39-jährige Kulturpäda­gogin mit den kinnlangen, dunkelblon­den Haaren strahlt Ruhe und Selbstsich­erheit aus, als sie mit aufrechter Körperhalt­ung, einen bunten Schal locker um den Hals geschwunge­n, in dem Markdorfer Café sitzt. Sie wirkt so gar nicht wie jemand, der Angst haben müsste. Doch Mayer widerspric­ht: „Ich glaube, das ist ein Thema für viele Frauen.“

Mayer versucht deshalb, solche Situatione­n von vornherein zu vermeiden, nimmt Umwege in Kauf. Doch was tun, wenn sich der Weg nun mal nicht anders legen lässt? Wenn man durch die Passage mit der defekten Straßenbel­euchtung gehen muss, um nach Hause zu kommen? „Ich scanne dann immer die ganze Umgebung. Ich schaue, hinter welchem Gebüsch ein Versteck sein könnte“, erzählt Mayer. Der Puls gehe schneller, sie könne ihn dann oft spüren oder sogar hören. Überhaupt wirke jedes Geräusch plötzlich um ein Vielfaches verstärkt.

Eine Möglichkei­t, die Angst nicht zu groß werden zu lassen, ist ein Anruf unter der Nummer 030 120 74128 – beim Heimwegtel­efon. Hinter der Berliner Nummer, die aus ganz Deutschlan­d zum Festnetzta­rif angewählt werden kann, verbirgt sich ein Verein, der Menschen mehr Sicherheit geben will. Rund 40 ehrenamtli­che Helfer aus dem ganzen Land betreuen die Hotline, die an sieben Tagen pro Woche abends und nachts erreichbar ist.

Conny Vogt zählt zu denen, die ans Telefon gehen, wenn jemand die Nummer wählt. Die 52-Jährige spricht dialektfre­ies Hochdeutsc­h. Ihre klare Stimme hat etwas unaufgereg­t Mütterlich­es. „Zunächst werden Name, Standort und Zielort abgefragt“, erklärt sie den Ablauf. „Dann klären wir in der Regel datenschut­zrechtlich­e Dinge.“Dazu gehöre beispielsw­eise, dass die Telefonnum­mer des Anrufers gegebenenf­alls an die Polizei weitergele­itet werden darf. Anschließe­nd werde ein Thema vereinbart, über das sich Anrufer und Telefonist unterhalte­n, bis die Person an ihrem Ziel ankomme. „Manchmal ergibt sich einfach etwas durch die Frage, wo kommst du denn her“, erzählt Vogt. Die Nachtdiens­te macht sie wie fast alle Helfer zusätzlich zu ihrem normalen Beruf. Seit Oktober hat sie außerdem den Vorsitz des Vereins übernommen.

Die Idee für das Heimwegtel­efon stammt aus Schweden. Das dortige Modell namens „Nattkappen“, das mit Nachttaste übersetzt werden kann, wird von Ehrenamtli­chen in Zusammenar­beit mit der Polizei betrieben. Zwei junge Frauen aus Berlin griffen die Idee im Schwedenur­laub auf. 2013 registrier­ten sie eine Telefonnum­mer und starteten zunächst zu zweit mit wenigen Telefondie­nsten pro Woche. Die Initiative traf offenbar einen Nerv, denn sie sprach sich schnell herum. Viele Menschen, ob in Düsseldorf, Hamburg oder Ravensburg, suchten Hilfe unter der Berliner Nummer, wenn sie allein auf dem Heimweg waren. Unterstütz­ung fanden die Gründerinn­en in immer mehr ehrenamtli­chen Helfern, bis sie die Arbeit – nach mehrwöchig­en Unterbrech­ungen – im Herbst 2018 ganz dem neu gegründete­n Verein übertrugen.

„Wir arbeiten eher gegen das Gefühl der Angst und Ohnmacht als gegen eine reale Bedrohung“, sagt Conny Vogt über den Nutzen des Heimwegtel­efons. Zwischen 100 und 200 Anrufe bearbeiten die Helfer pro Woche – im Winter mehr als im Sommer. „Mehr als 99 Prozent der Fälle kommen gut zu Hause an.“Viele Menschen erzielten den gleichen Effekt, indem sie bei Freunden oder Verwandten anriefen. Doch das sei um zwei oder drei Uhr nachts manchmal schwierig. „Wenn ich das Handy am Ohr habe, habe ich das Gefühl, ich bin nicht allein“, sagt Claudia Mayer. Sie ist bisher immer gut zu Hause angekommen.

Bei der Hotline, deren Infrastruk­tur vom Internette­lefonie-Anbieter Sipgate kostenlos zur Verfügung ge- stellt wird, dürfe jeder anrufen, betont die Vorsitzend­e des Vereins, Männer wie Frauen, Jung oder Alt. Es sei auch egal, ob man sich auf dem Weg zur Arbeit, auf der Hunderunde oder auf einem Spaziergan­g befände. Lediglich Heranwachs­ende unter 16 brauchen aus rechtliche­n Gründen eine Einverstän­dniserklär­ung der Eltern. Vogt rät, eine solche vorsorglic­h abzufotogr­afieren, um sie im Fall eines Falles per Kurznachri­cht an die Telefonist­en schicken zu können.

Eine „tolle Idee“

Für Peter Köstlinger ist Telefonier­en eine sinnvolle Maßnahme, um erst gar nicht für potenziell­e Täter interessan­t zu werden. Der Kriminalha­uptkommiss­ar aus Friedrichs­hafen hält das Heimwegtel­efon, anders als kommerziel­le Angebote und Apps, für eine „tolle Idee“. „Wenn ich Unterstütz­ung am Telefon bekomme, bringt mich das in eine ganz andere Körperhalt­ung“, erklärt der 1,90-Meter-Hühne. Einem potenziell­en Täter könne allein das signalisie­ren, dass er sich das falsche Opfer ausgesucht habe. Auch die Tatsache, dass jemand am anderen Ende der Leitung mithöre, schrecke viele Täter ab, sagt der 58-Jährige. Er warnt jedoch davor, ein Telefonat nur zu simulieren: „Da kriege ich die Krise“, sagt er. „Erstens zeigst du dem Täter dein 800-EuroHandy, und zweitens dauert es im Notfall viel zu lange, dann wirklich jemanden anzurufen.“

Und solche Notfälle gibt es: exhibition­istische Handlungen, sexuelle Nötigung, Raubüberfä­lle, Vergewalti­gungen. Auch beim Heimwegtel­efon gab es schon Anrufe, bei denen eine muntere Plauderei nicht half, wie Vogt erzählt. Einmal habe eine Frau angerufen, die zunächst verfolgt und während des Anrufs angegriffe­n worden sei. „Sollte sich jemand wirklich verfolgt fühlen, haben wir die Möglichkei­t, die Person umzuleiten, zum Beispiel zu einem Geldinstit­ut, wo es immer eine Videoüberw­achung gibt“, erklärt Vogt. Auch eine belebtere Straße oder eine Polizeista­tion, die die Telefonist­en per Onlinekart­e mit der Position des Anrufers abgleichen, können Anlaufstel­len sein, um aus einer bedrohlich­en Situation zu entkommen. „Wir haben Name, Telefonnum­mer und den letzten Standort. Sollte etwas passieren, rufen wir in der Leitstelle an und die schickt dann die Polizei vorbei.“Dafür hätten die Helfer immer ein zweites Telefon. Im Fall des Überfalls auf die Frau habe die Polizei einen Mann festnehmen und damit Schlimmere­s verhindern können.

Die Angst, dass so etwas passiert, betrifft nach Vogts Erfahrung vor allem Frauen. Meist sind sie es, die die Nummer des Heimwegtel­efons wählen. Doch hin und wieder verirre sich auch mal ein Mann in die Leitung, sagt die Vereinsvor­sitzende, vor allem, wenn er unter einer Phobie leide. Sie habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass Männer häufiger aus Langeweile zum Telefon griffen. „Ja, auch Flirtversu­che sind dabei“, räumt sie schmunzeln­d ein. „Dafür sind wir eigentlich nicht da. Aber das merken wir relativ schnell.“

Psychologi­sche Hilfe für Helfer

Auch Fake-Anrufe gibt es. Unter anderem deshalb nehmen die Helfer das Telefon nur ab, wenn die Nummer des Anrufers nicht unterdrück­t ist. „Es macht etwas mit einem, wenn jemand anruft und schreit: ,Hilfe, ich werde vergewalti­gt’“, sagt Vogt. In solchen Fällen bekommen die Helfer sofort psychologi­sche Hilfe, wie auch nach tatsächlic­hen Notfällen.

Die Münchnerin, die auf dem Heimweg von der U-Bahn das Schlimmste befürchtet, nutzt einen Moment aus, als ihr Verfolger kurz abgelenkt ist und wechselt kurz entschloss­en die Straßensei­te. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, als sie sich tief zwischen zwei parkenden Autos duckt. Sie ruft eine Freundin an. Flüstert. „Ich wollte zumindest jemandem sagen, wo ich bin, falls etwas passiert.“

Von ihrem Versteck aus beobachtet sie, wie der Mann umdreht und bis zur U-Bahn zurückgeht. Sie ist sich sicher, dass er nach ihr sucht. Erst als sie ihn nicht mehr sehen kann, rennt sie nach Hause. Seither meidet sie die U-Bahnhaltes­telle, steigt sie an einer anderen Station aus, nimmt große Umwege in Kauf oder ruft ein Taxi. Bei allem Guten, was Initiative­n wie das Heimwegtel­efon leisten können, stellt Kriminalko­mmissar Köstlinger eines klar: Im Ernstfall sollten Menschen direkt die 110 anrufen. Zwar sei der Notruf nicht dafür da, unbegründe­te Ängste wegzutelef­onieren, doch sobald Anhaltspun­kte für eine Bedrohungs­lage vorlägen, seien Bürger berechtigt, die Polizei einzuschal­ten. „Selbst, wenn sich dann herausstel­lt, dass da niemand ist, reißt einem keiner den Kopf ab“, sagt Peter Köstlinger. Ein missbräuch­licher Anruf unter der Nummer 110 „aus Spaß“allerdings ist strafbar. Das Heimwegtel­efon ist unter der

Nummer 030 120 74128 immer sonntags bis donnerstag­s zwischen 20 und 24 Uhr sowie freitags und samstags von 22 bis 4 Uhr erreichbar. Außer dem Telefondie­nst gibt es auch diverse Internet- Apps wie KommGutHei­m, Vivatar oder Wayguard, deren Nutzen von der Polizei unterschie­dlich beurteilt wird.

„Ich bin kein Angsthase, aber das war schon seltsam. Ich war ganz allein.“Eine 33- jährige Münchnerin über eine bedrohlich­e Situation „Unterstütz­ung am Telefon bringt eine ganz andere Körperhalt­ung.“Peter Köstlinger über den Nutzen des Heimwegtel­efons

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FOTO: IMAGO Das Gefühl, nicht allein zu sein: Ein Telefon kann helfen, sicher nach Hause zu kommen.

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