Telefonieren gegen die Angst
Ein Verein begleitet Menschen am Telefon nach Hause – und ruft im Notfall die Polizei
- An einer Fußgängerampel bemerkt sie ihn zum ersten Mal. Es ist ein später Winterabend kurz vor Weihnachten, und sie ist auf dem Weg nach Hause. Auf einem Christkindlesmarkt in München hat sie mit Freunden Glühwein getrunken, anschließend ist sie mit der U-Bahn zur Haltestelle bei ihr um die Ecke gefahren. Beim Aussteigen macht ihr ein Mann die Tür auf, lässt ihr den Vortritt. Nun steht er hinter ihr an der Ampel, während sie darauf wartet, dass das grüne Männchen aufleuchtet.
Er ist ihr so nah, dass er sie fast zu berühren scheint. „Mir kam das komisch vor, weil er so dicht bei mir stand“, erzählt die Frau, die anonym bleiben möchte, später. Aus der ersten Irritation wird bald Unwohlsein – der Mann folgt ihr weiter. Mit dem Blick auf ihr Handy bleibt sie deshalb stehen, um ihn vorbeizulassen. „Er hat sich immer wieder nach mir umgedreht“, sagt die 33-Jährige. „Ich bin kein Angsthase, aber das war schon seltsam. Ich war ganz allein.“
Ein Thema für viele Frauen
Es sind Situationen wie diese, vor denen sich viele Menschen fürchten. Auch Claudia Mayer kennt das beklemmende Gefühl, das sie vor allem dann beschleicht, wenn sie im Dunkeln zu Fuß oder allein in Bus oder Bahn unterwegs ist. Die 39-jährige Kulturpädagogin mit den kinnlangen, dunkelblonden Haaren strahlt Ruhe und Selbstsicherheit aus, als sie mit aufrechter Körperhaltung, einen bunten Schal locker um den Hals geschwungen, in dem Markdorfer Café sitzt. Sie wirkt so gar nicht wie jemand, der Angst haben müsste. Doch Mayer widerspricht: „Ich glaube, das ist ein Thema für viele Frauen.“
Mayer versucht deshalb, solche Situationen von vornherein zu vermeiden, nimmt Umwege in Kauf. Doch was tun, wenn sich der Weg nun mal nicht anders legen lässt? Wenn man durch die Passage mit der defekten Straßenbeleuchtung gehen muss, um nach Hause zu kommen? „Ich scanne dann immer die ganze Umgebung. Ich schaue, hinter welchem Gebüsch ein Versteck sein könnte“, erzählt Mayer. Der Puls gehe schneller, sie könne ihn dann oft spüren oder sogar hören. Überhaupt wirke jedes Geräusch plötzlich um ein Vielfaches verstärkt.
Eine Möglichkeit, die Angst nicht zu groß werden zu lassen, ist ein Anruf unter der Nummer 030 120 74128 – beim Heimwegtelefon. Hinter der Berliner Nummer, die aus ganz Deutschland zum Festnetztarif angewählt werden kann, verbirgt sich ein Verein, der Menschen mehr Sicherheit geben will. Rund 40 ehrenamtliche Helfer aus dem ganzen Land betreuen die Hotline, die an sieben Tagen pro Woche abends und nachts erreichbar ist.
Conny Vogt zählt zu denen, die ans Telefon gehen, wenn jemand die Nummer wählt. Die 52-Jährige spricht dialektfreies Hochdeutsch. Ihre klare Stimme hat etwas unaufgeregt Mütterliches. „Zunächst werden Name, Standort und Zielort abgefragt“, erklärt sie den Ablauf. „Dann klären wir in der Regel datenschutzrechtliche Dinge.“Dazu gehöre beispielsweise, dass die Telefonnummer des Anrufers gegebenenfalls an die Polizei weitergeleitet werden darf. Anschließend werde ein Thema vereinbart, über das sich Anrufer und Telefonist unterhalten, bis die Person an ihrem Ziel ankomme. „Manchmal ergibt sich einfach etwas durch die Frage, wo kommst du denn her“, erzählt Vogt. Die Nachtdienste macht sie wie fast alle Helfer zusätzlich zu ihrem normalen Beruf. Seit Oktober hat sie außerdem den Vorsitz des Vereins übernommen.
Die Idee für das Heimwegtelefon stammt aus Schweden. Das dortige Modell namens „Nattkappen“, das mit Nachttaste übersetzt werden kann, wird von Ehrenamtlichen in Zusammenarbeit mit der Polizei betrieben. Zwei junge Frauen aus Berlin griffen die Idee im Schwedenurlaub auf. 2013 registrierten sie eine Telefonnummer und starteten zunächst zu zweit mit wenigen Telefondiensten pro Woche. Die Initiative traf offenbar einen Nerv, denn sie sprach sich schnell herum. Viele Menschen, ob in Düsseldorf, Hamburg oder Ravensburg, suchten Hilfe unter der Berliner Nummer, wenn sie allein auf dem Heimweg waren. Unterstützung fanden die Gründerinnen in immer mehr ehrenamtlichen Helfern, bis sie die Arbeit – nach mehrwöchigen Unterbrechungen – im Herbst 2018 ganz dem neu gegründeten Verein übertrugen.
„Wir arbeiten eher gegen das Gefühl der Angst und Ohnmacht als gegen eine reale Bedrohung“, sagt Conny Vogt über den Nutzen des Heimwegtelefons. Zwischen 100 und 200 Anrufe bearbeiten die Helfer pro Woche – im Winter mehr als im Sommer. „Mehr als 99 Prozent der Fälle kommen gut zu Hause an.“Viele Menschen erzielten den gleichen Effekt, indem sie bei Freunden oder Verwandten anriefen. Doch das sei um zwei oder drei Uhr nachts manchmal schwierig. „Wenn ich das Handy am Ohr habe, habe ich das Gefühl, ich bin nicht allein“, sagt Claudia Mayer. Sie ist bisher immer gut zu Hause angekommen.
Bei der Hotline, deren Infrastruktur vom Internettelefonie-Anbieter Sipgate kostenlos zur Verfügung ge- stellt wird, dürfe jeder anrufen, betont die Vorsitzende des Vereins, Männer wie Frauen, Jung oder Alt. Es sei auch egal, ob man sich auf dem Weg zur Arbeit, auf der Hunderunde oder auf einem Spaziergang befände. Lediglich Heranwachsende unter 16 brauchen aus rechtlichen Gründen eine Einverständniserklärung der Eltern. Vogt rät, eine solche vorsorglich abzufotografieren, um sie im Fall eines Falles per Kurznachricht an die Telefonisten schicken zu können.
Eine „tolle Idee“
Für Peter Köstlinger ist Telefonieren eine sinnvolle Maßnahme, um erst gar nicht für potenzielle Täter interessant zu werden. Der Kriminalhauptkommissar aus Friedrichshafen hält das Heimwegtelefon, anders als kommerzielle Angebote und Apps, für eine „tolle Idee“. „Wenn ich Unterstützung am Telefon bekomme, bringt mich das in eine ganz andere Körperhaltung“, erklärt der 1,90-Meter-Hühne. Einem potenziellen Täter könne allein das signalisieren, dass er sich das falsche Opfer ausgesucht habe. Auch die Tatsache, dass jemand am anderen Ende der Leitung mithöre, schrecke viele Täter ab, sagt der 58-Jährige. Er warnt jedoch davor, ein Telefonat nur zu simulieren: „Da kriege ich die Krise“, sagt er. „Erstens zeigst du dem Täter dein 800-EuroHandy, und zweitens dauert es im Notfall viel zu lange, dann wirklich jemanden anzurufen.“
Und solche Notfälle gibt es: exhibitionistische Handlungen, sexuelle Nötigung, Raubüberfälle, Vergewaltigungen. Auch beim Heimwegtelefon gab es schon Anrufe, bei denen eine muntere Plauderei nicht half, wie Vogt erzählt. Einmal habe eine Frau angerufen, die zunächst verfolgt und während des Anrufs angegriffen worden sei. „Sollte sich jemand wirklich verfolgt fühlen, haben wir die Möglichkeit, die Person umzuleiten, zum Beispiel zu einem Geldinstitut, wo es immer eine Videoüberwachung gibt“, erklärt Vogt. Auch eine belebtere Straße oder eine Polizeistation, die die Telefonisten per Onlinekarte mit der Position des Anrufers abgleichen, können Anlaufstellen sein, um aus einer bedrohlichen Situation zu entkommen. „Wir haben Name, Telefonnummer und den letzten Standort. Sollte etwas passieren, rufen wir in der Leitstelle an und die schickt dann die Polizei vorbei.“Dafür hätten die Helfer immer ein zweites Telefon. Im Fall des Überfalls auf die Frau habe die Polizei einen Mann festnehmen und damit Schlimmeres verhindern können.
Die Angst, dass so etwas passiert, betrifft nach Vogts Erfahrung vor allem Frauen. Meist sind sie es, die die Nummer des Heimwegtelefons wählen. Doch hin und wieder verirre sich auch mal ein Mann in die Leitung, sagt die Vereinsvorsitzende, vor allem, wenn er unter einer Phobie leide. Sie habe jedoch die Erfahrung gemacht, dass Männer häufiger aus Langeweile zum Telefon griffen. „Ja, auch Flirtversuche sind dabei“, räumt sie schmunzelnd ein. „Dafür sind wir eigentlich nicht da. Aber das merken wir relativ schnell.“
Psychologische Hilfe für Helfer
Auch Fake-Anrufe gibt es. Unter anderem deshalb nehmen die Helfer das Telefon nur ab, wenn die Nummer des Anrufers nicht unterdrückt ist. „Es macht etwas mit einem, wenn jemand anruft und schreit: ,Hilfe, ich werde vergewaltigt’“, sagt Vogt. In solchen Fällen bekommen die Helfer sofort psychologische Hilfe, wie auch nach tatsächlichen Notfällen.
Die Münchnerin, die auf dem Heimweg von der U-Bahn das Schlimmste befürchtet, nutzt einen Moment aus, als ihr Verfolger kurz abgelenkt ist und wechselt kurz entschlossen die Straßenseite. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, als sie sich tief zwischen zwei parkenden Autos duckt. Sie ruft eine Freundin an. Flüstert. „Ich wollte zumindest jemandem sagen, wo ich bin, falls etwas passiert.“
Von ihrem Versteck aus beobachtet sie, wie der Mann umdreht und bis zur U-Bahn zurückgeht. Sie ist sich sicher, dass er nach ihr sucht. Erst als sie ihn nicht mehr sehen kann, rennt sie nach Hause. Seither meidet sie die U-Bahnhaltestelle, steigt sie an einer anderen Station aus, nimmt große Umwege in Kauf oder ruft ein Taxi. Bei allem Guten, was Initiativen wie das Heimwegtelefon leisten können, stellt Kriminalkommissar Köstlinger eines klar: Im Ernstfall sollten Menschen direkt die 110 anrufen. Zwar sei der Notruf nicht dafür da, unbegründete Ängste wegzutelefonieren, doch sobald Anhaltspunkte für eine Bedrohungslage vorlägen, seien Bürger berechtigt, die Polizei einzuschalten. „Selbst, wenn sich dann herausstellt, dass da niemand ist, reißt einem keiner den Kopf ab“, sagt Peter Köstlinger. Ein missbräuchlicher Anruf unter der Nummer 110 „aus Spaß“allerdings ist strafbar. Das Heimwegtelefon ist unter der
Nummer 030 120 74128 immer sonntags bis donnerstags zwischen 20 und 24 Uhr sowie freitags und samstags von 22 bis 4 Uhr erreichbar. Außer dem Telefondienst gibt es auch diverse Internet- Apps wie KommGutHeim, Vivatar oder Wayguard, deren Nutzen von der Polizei unterschiedlich beurteilt wird.
„Ich bin kein Angsthase, aber das war schon seltsam. Ich war ganz allein.“Eine 33- jährige Münchnerin über eine bedrohliche Situation „Unterstützung am Telefon bringt eine ganz andere Körperhaltung.“Peter Köstlinger über den Nutzen des Heimwegtelefons