Zinsflaute dauert an
Rat der Europäischen Zentralbank sieht Risiken für Konjunktur im Euroraum – Kritiker sprechen von Panik
FRANKFURT - Die Zinsen im Euroraum bleiben auf ihrem aktuellen Niveau, und das „mindestens bis zum Jahresende“. Das hat der EZB-Rat gestern entschieden. Damit werden Spareinlagen nicht verzinst, die Sparer im Euroraum verlieren also real weiter Geld, denn die Inflationsrate im Euroraum lag zuletzt bei 1,5 Prozent. Es bleibt auch beim Strafzins von 0,4 Prozent, den Banken für ihre Einlagen bei der EZB zahlen müssen. Damit hatten Beobachter schon gerechnet.
Doch die EZB geht noch weiter: Sie wird nun die Anleihen, die sie in den letzten Jahren gekauft hat, auch länger reinvestieren, wenn diese fällig werden, und das über die Zinswende hinaus. Diese Wertpapiere haben inzwischen ein Volumen von 2,6 Billionen Euro erreicht. Auch damit hält sie die Kapitalmarktzinsen niedrig.
Was die EZB-Beobachter aber besonders überrascht hat: Die Notenbank kündigte gestern schon an, dass sie den Banken im Euroraum weiter Geldspritzen zur Verfügung stellt, sogenannte TLTRO (Targeted Longer-Term Refinancing Operations), also längerfristige Refinanzierungsgeschäfte. Die sollen zwischen Sep- tember und März 2021 alle drei Monate ausgeschrieben werden zu einem variablen Zins und mit einer Laufzeit von jeweils zwei Jahren.
Damit habe die Notenbank die Möglichkeit einer Zinserhöhung zwar noch nicht abgesagt, meint Michael Schubert, Volkswirt der Commerzbank. Doch EZB-Präsident Mario Draghi machte gestern auf der Pressekonferenz deutlich, dass er eher Abwärtsrisiken für die Konjunktur im Euroraum sehe. Unsicherheit Das zeigen auch die Projektionen der EZB-Volkswirte: die rechnen für dieses Jahr nur noch mit einem Wachstum von 1,1 Prozent. Im Dezember waren sie noch von 1,7 Prozent ausgegangen. Auch die Verbraucherpreise sollen nur noch um 1,2 statt um 1,6 Prozent steigen. Die EZB strebt eine Preissteigerung von unter, aber nahe zwei Prozent an, um die Währung stabil zu halten.
Die Unsicherheit in der Wirtschaft resultiere zum einen aus externen Faktoren, sagte Draghi und nannte etwa die Handelskonflikte und den bevorstehenden Brexit. „Die schwächeren Wirtschaftsdaten weisen auf eine beträchtliche Verlangsamung des wirtschaftlichen Aufschwungs hin“, sagte der EZB-Präsi- dent. Immerhin sei es noch ein Aufschwung.
Die Notenbank habe proaktiv handeln wollen anstatt zu reagieren. Die Entscheidungen seien zudem einstimmig gefällt worden. Das bedeutet also, dass auch die deutschen Vertreter, also Bundesbankpräsident Jens Weidmann und EZB-Direktoriumsmitglied Sabine Lautenschläger zugestimmt haben. Vor allem Weidmann hatte sich zuvor kritisch geäußert, ob man die TLTROs weiter führen solle – das Risiko von Nebenwirkungen steige im Zeitverlauf, hatte er vor einigen Tagen gesagt. Diese neuen Refinanzierungsgeschäfte sollen die alten ersetzen, die zum Juni auslaufen. Kritiker fürchten um Banken Vor allem in Südeuropa hatten die Banken diese Gelder genutzt, um damit Staatsanleihen zu kaufen, anstatt diese Gelder als Kredite an die Wirtschaft weiterzureichen. Das soll jetzt nicht mehr möglich sein, versicherte Draghi gestern. Die neuen Gelder sollten nur noch als Kredite an die Wirtschaft und private Unternehmen und Haushalte ausgegeben werden.
Volkswirte sehen die jüngsten Schritte der EZB kritisch. „Der Zeitpunkt – nicht der Inhalt – der Ankün- digung kommt doch überraschend und hat etwas von Panik“, meint etwa Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Deutschland. Die EZB habe mit einem Schlag all ihr Pulver verschossen für den Fall, dass die Konjunktur der Eurozone in den kommenden Monaten in eine Rezession abrutsche.
Die Zinswende werde auf unbestimmte Zeit aufgeschoben, urteilt Friedrich Heinemann, Volkswirt des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Er kritisiert auch die langfristigen Kredite für Europas Banken: „Damit erhärtet sich die Vermutung, dass im Zentralbankrat eine große Sorge um die Überlebensfähigkeit von Kreditinstituten in Südeuropa besteht. Dieses Handeln nährt außerdem den Verdacht, dass die EZB nicht nur Geldpolitik für die Eurozone, sondern auch Bankenrettungspolitik für einzelne nationale Märkte betreibt.“
Somit wird Draghi als erster EZBPräsident in die Geschichte dieser Institution eingehen, der in seiner immerhin achtjährigen Amtszeit die Zinsen nicht erhöht hat. Er entscheide das ja nicht allein, sagte Draghi gestern, diese Entscheidung treffe der EZB-Rat. Draghi scheidet Ende Oktober aus dem Amt.