Sunnewirbele aus Sachsen
Da der Schnee im Garten nun weg sei, könne man endlich den Feldsalat holen. So befand die Gattin dieser Tage. Und beim Stichwort Feldsalat kam einem wieder einmal ein Erlebnis der eigenen Mutter in den Sinn: Die Südbadenerin, die es der Ehe wegen nach Sachsen verschlagen hatte, fragte einst in einem Leipziger Lebensmittelgeschäft nach Feldsalat. Den kenne sie nicht, antwortete die Verkäuferin. Bei Ackersalat war ebenfalls Fehlanzeige. Schließlich probierte es die Mama auf Alemannisch: zunächst mit Nüsslesalat und dann – ohne allzu große Hoffnung – mit Sunnewirbele
salat. Nur Achselzucken. Aber draußen auf dem Fensterbrett sei doch eine Auslage mit Feldsalat, startete das junge Südlicht entnervt einen letzten Versuch. Ein Blick, ein Ausruf: „Ach, Sie meen‘n wohl Rapünzchen!“. Damit fällt ein Blick auf die Namen unserer Lebensmittel, die gerade bei Gemüse und Salat mit vielen Varianten aufwarten. Bei Sprachforschern gelten sie deswegen als Fundgrube, wenn es um landsmannschaftliche Eigenarten geht, um die Spiegelung früherer Sprachzustände oder um den Beweis für nationalen und internationalen Austausch bei der Esskultur. Ein Paradebeispiel ist die Kartof
fel. Weil die Knolle der aus Amerika stammenden Pflanze so ähnlich aussieht wie ein Trüffel, wurde sie von den Italienern tartufolo genannt. Dieses Wort verschwand zwar wieder zugunsten von patata, aber zuvor war es noch als Tartüffel zu uns gekommen und wurde später zu Kartof
fel umgeformt. Allerdings haben sich daneben auch andere Wörter eingebürgert – etwa unsere aparten Dialektformen von Erdepfl über Herdöpfl und Bodabire bis Grombire. Zu den alten Namen Möhre oder Gel
be Rübe gesellte sich um 1600 das Wort Karotte, das auf Umwegen über Niederländisch, Französisch und Latein bis auf das Altgriechische zurückgeht. Wenn man zum Wirsing auch Welschkraut sagt, so hat das mit seiner Herkunft aus welschen Landen zu tun, also aus dem Süden. Aber
Wirsing ist selbst schon ein Fremdwort – von lateinisch viridis (grün). Und bei Endivie und Chicorée wird es aus einem anderen Grund kompliziert: Beide gehören zur Gattung der Wegwarten oder Zichorien. Wer allerdings nach Frankreich fährt, muss umdenken: Endivie nennt man dort
chicorée, und Chicorée heißt endive. Aber zurück zu den Rapünzchen. Das Wort Rapunzel für Feldsalat kommt ebenfalls aus dem Süden – von italienisch raperonzolo oder raponzolo, einer Verkleinerungsform von rapa ( Rübe). Viele denken allerdings bei
Rapunzel vor allem an das berühmte Märchen vom hübschen, im Turm gefangenen Mägdelein, das seine langen Haare herunterlässt, damit der Prinz daran hochklettern kann.
Rapunzel hieß es bekanntlich, weil seine Mutter während der Schwangerschaft Heißhunger auf Feldsalat hatte. Wer an tiefenpsychologischen Deutungen dieses Märchens interessiert ist, findet im Internet Lesestoff für Stunden. Beim Standesamt hat man übrigens umgedacht: Wer will, kann seine Tochter heute Rapunzel nennen. Bei
Kartoffel ist man noch nicht so weit. Wenn Sie Anregungen zu Sprachthemen haben, schreiben Sie! Schwäbische Zeitung, Kulturredaktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg
r. waldvogel@ schwaebische. de