Alle zehn Jahre wieder
Oberammergau bereitet sich auf die Passionsspiele 2020 vor – Jetzt beginnt die entscheidende Phase und die Fastenzeit für Friseure
Zu tun gibt es jede Menge, und so ist es für Spielleiter Stückl meist ein Leichtes, für alle Mitwirkende eine Aufgabe zu finden. Dabei helfen ihm auch die Bewerbungsbögen. In seinem Büro im Festspielhaus zieht er einen der vielen Ordner hervor, in denen die Bewerbungen der Oberammergauer abgeheftet sind. Neben den persönlichen Daten wie Alter und Beruf haben die Männer und Frauen auch angegeben, als was sie bei vergangenen Passionen mitgewirkt haben und welche Aufgabe sie gerne 2020 übernehmen wollen. Und wie viele haben sich für den Jesus beworben? „Niemand. Das traut sich keiner“, sagt Stückl und grinst verschmitzt. Letztendlich entscheidet er alleine, wer 2020 am Kreuz hängt, Jesus richtet oder für 30 Silberlinge verrät. Der örtliche Gemeinderat hat lediglich ein Vetorecht.
Allerdings besitzt jeder, der in Oberammergau geboren und aufgewachsen ist oder seit mindestens 20 Jahren im Dorf wohnt, ein Spielrecht. Er oder sie muss also von Stückl in irgendeiner Art und Weise berücksichtigt werden. Entsprechend groß war die Anspannung bei allen im Ort, als vergangenen Oktober nach einem Festgottesdienst feierlich die Namen der doppelt besetzten Hauptrollen bekannt gegeben wurden.
Schon an den Tagen zuvor ist die Nervosität zu spüren. Nicht nur bei Stückl, der kettenrauchend durchs Festspielhaus hastet und nach eigenem Bekunden die letzten Nächte kaum mehr schlafen konnte. Die Rezeptionistin im Hotel erkundigt sich am Morgen freundlich, ob man auch zur „Verkündung“gehe und vielleicht eine Wolldecke fürs immer kühle Festspielhaus mitnehmen wolle. Dorfführerin Helga Stuckenberger ist nicht so ganz bei der Sache, als sie am Vortag über die Kreuzigungsgruppe am Dorfrand und die denkmalgeschützten Häuser des Ortes referiert. Viel lieber erzählt sie, dass sie bereits Veronika und Martha gespielt habe und die jüngere Oberammergauer Zeitrechnung überhaupt in „vor und nach der Passion“eingeteilt ist. Vom Jesus zum Forstwirt Auch Forstwirt Anton Burkhart kann bei der Führung durch den Bergwald des Naturparks Oberammergauer Alpen seine Nervosität nur schwerlich verbergen. Bei der Passion 2000 war er der Christusdarsteller, 2010 verkörperte er den Hohepriester Kaiphas und auch im kommenden Jahr hätte er gerne eine tragende Rolle. „Vielleicht den Pilatus. Aber der ist sehr begehrt – weil er die meiste Zeit sitzen kann“, verrät er. Für den Jesus sei er mit seinen 48 Jahren eh zu alt und überhaupt: „Da hängt man ganz schön lange am Kreuz. Nicht sehr angenehm.“
Frederik Mayet wirkt dagegen ausgesprochen gelassen. Er nimmt sich am Abend vor der Bekanntgabe noch Zeit, mit Journalisten im Gasthaus zusammenzusitzen. Der Christus von 2010 bestellt ein Bier und erzählt: „Jesus zu spielen, das wünscht man sich nicht, das passiert einfach.“Er könne sich gut vorstellen, bei der anstehenden Passion noch einmal in diese Rolle zu schlüpfen. Schließlich sei dies eine große Ehre. Aber auch er habe noch keine Ahnung, wer welche Rolle morgen von Stückl zugeteilt bekommt. Und das, obwohl er Pressesprecher der Passionsspiele ist. Die Besetzungsliste sei ein großes Geheimnis, und Stückl habe wie immer kein Wort verraten oder etwas angedeutet. Entsprechend wild waren in den vergangenen Tagen die Spekulationen und Gerüchte im Ort. Denn beinahe jede Familie ist involviert, hat einen Mitwirkenden in ihren Reihen. Die Passion schweißt das Dorf zusammen. „Jeder, der in irgendeiner Art und Weise daran beteiligt ist, fühlt sich als Teil einer großen Familie. Man gehört zusammen, da spielen auch Alter, Beruf und Stellung keine Rolle mehr“, behauptet Mayet. Stückl beschreibt es anders: „Die ganze Gemeinde lebt auf diesen Identifikationspunkt hin.“
Wie das halbe Dorf, jede Menge Journalisten und eine Handvoll Urlauber versammeln sich auch Frederik, Anton und Helga nach dem Festgottesdienst am nächsten Tag vor dem Festspielhaus mitten im Ort, um Für die Oberammergauer ist der Cengiz ein Hiesiger und allein schon deswegen geht die Wahl für sie in Ordnung. Sie wissen, dass sich der Junge, wie alle anderen auch, reinhängen wird in die Proben, die im November nach einer gemeinsamen Israelreise beginnen. Um bei der Passion dabei sein zu können, werden sie alle beruflich kürzer treten, ihren Jahresurlaub, eine unbezahlte Auszeit, manche gar ein Sabbatjahr nehmen. Im Gegenzug erhalten sie eine Gage für ihr Engagement. Als Lena Rödl fertig und Stückl froh ist, „dass es jetzt raus ist“, posieren die Hauptdarsteller für die ersten Pressefotos, und die Einheimischen diskutieren auf dem Platz noch lange über die Besetzungsliste, an der sie aber wenig auszusetzen haben.
Viel mehr reiben sich die Oberammergauer an ihrem Regisseur selbst, der immer wieder Tabus einreißt. So hat er im Laufe der Jahrzehnte unter anderem durchgesetzt, dass auch verheiratete Frauen die Maria verkörpern dürfen, Konfessionen keine Rolle mehr spielen und jeglicher Antisemitismus aus dem Text gestrichen wurde. Nachdem in den letzten beiden Passionen sein Jesus ein Kämpfer und Revoluzzer war, will Stückl 2020 wieder mehr die Botschaft des Gottessohnes in den Mittelpunkt stellen. Auch das wird dann in Oberammergau sehr widersprüchlich diskutiert werden.