Auf Sand gebaut
Für viele Menschen in Großbritannien ist der Brexit mehr als politisches Drama: Sie fürchten gravierende Nachteile
CAMBRIDGE/BISHOP’S STORTFORD/
LONDON - Liv Gillmans Gewissheit von einem Leben in einem wohlgeordneten Land schwand kurz vor Silvester 2018. Sie stand am Schalter einer Apotheke, hielt ein Rezept für Naproxen in der Hand. Die Pillen für ihren an Psoriasis-Arthritis erkrankten Vater bekam sie dafür nicht. Sie versuchte ihr Glück in weiteren Apotheken – vergeblich. Gillman dachte zunächst, es liege an der Zeit zwischen den Jahren. Aber ihr Vater nahm den Wirkstoff ja ununterbrochen seit den 1980erJahren ein. Er hörte nicht damit auf wegen Ostern oder Weihnachten. Sein Arzt verschrieb Naproxen, das staatliche britische Gesundheitswesen NHS übernahm die Kosten, und ihr Vater löste bei einer beliebigen Apotheke das Rezept für den Entzündungshemmer ein. „Ich habe dann in einer der Apotheken gefragt, ob das mit dem Brexit zu tun hat, aber niemand wusste es“, sagt sie.
Psoriasis-Arthritis ist eine Krankheit, die Gelenke anschwellen und steif werden lässt. Die chronische Entzündung zerstört sie mit der Zeit. Naproxen bremst den Verfall. Ohne die Tabletten verwandle sich ihr Vater innerhalb von Tagen von einem agilen Mann in einen gebückten Greis, der sich vor Schmerzen windet. „Ich habe Panik bekommen“, erzählt die 28-Jährige. Gillman sitzt in einem Café in der Universitätsstadt Cambridge. Sie holt ein Notizbuch aus ihrer Tasche. Die Theaterregisseurin hat genau notiert, was sie seit Silvester 2018 recherchiert hat und was ihr andere Betroffene geschildert haben. Am Anfang stand eine Facebook-Anfrage an Freunde und Bekannte, ob vielleicht noch jemand Naproxen in der Hausapotheke habe. Mit den gesammelten Tabletten überbrückte ihr Vater zwei Wochen im Januar. Dann war sein Medikament wieder in den Apotheken erhältlich. Gillman erreichten Nachrichten aus Cambridge und anderen Städten. Auch andere hatten Schwierigkeiten, ihre gewohnten Arzneimittel zu bekommen. Eine Ärztin aus einem Krankenhaus sorgte schließlich für Aufklärung. „Sie meinte, dass die Kliniken wegen des Brexits einen Vorrat an Medikamenten wie Naproxen anlegen. Er soll der dreifachen Menge des derzeitigen Bedarfs entsprechen“, sagt Gillman.
Die britischen Zeitungen sollten ihre Schlagzeilen mit den Problemen chronisch kranker Menschen in Großbritannien füllen und Aufklärung fordern, findet Gillman. Die Kranken sollten auf die Straße gehen und von der Regierung Transparenz über den Stand der Versorgung mit Medikamenten kurz vor dem Austrittsdatum am 29. März verlangen. „Die Regierung sagt uns ja nichts. Selbst auf konkrete Anfragen gibt es keine wirklichen Informationen“, sagt sie. Doch Öffentlichkeit und Medien machten den Behörden kaum Druck, meint Gillmann. Ihr Vater weigere sich zum Beispiel, mit Journalisten zu reden. Das sei sehr britisch. „Krankheiten gehen niemanden etwas an.“Ihr Vater habe außerdem seit 30 Jahren sein Medikament ohne Probleme bekommen und sehe den Versorgungsengpass Ende vergangenen Jahres als Unfall. „Er ist überzeugt, dass es auf Dauer schon okay sein wird.“Seine Tochter glaubt das nicht.
Sie war jüngst im Unterhaus in London. Die Jugendorganisation „Our Future – Our Choice“hatte sie zu einem Austausch mit Parlamentsabgeordneten mitgenommen. Auch eine Abgeordnete von Theresa Mays konservativer Tory-Partei hatte sich den Fragen der jungen Anti-BrexitAktivisten gestellt. Die Politikerin habe sie zur Seite genommen, nachdem sie Aufklärung über die Medikamentenversorgung verlangt hatte, erzählt Gillman. „Sie meinte, dass sie sich Notfallpläne angesehen hat, weil es ihrem Vater gegangen sei wie meinem. Und was sie gesehen hat, hat sie nicht beruhigt. Sie will jetzt wenigstens gegen einen No-Deal-Brexit stimmen.“
Liv Gillman sieht die Zukunft ihres Vaters und anderer Menschen mit chronischen Erkrankungen derzeit auf Sand gebaut. Alles sieht danach aus, dass das Unterhaus für eine Verschiebung des Brexits stimmt. Sollte es Theresa May am Ende schaffen, ihre Version eines Austritts mit Abkommen, aber ohne eine Teilnahme Großbritanniens am europäischen Binnenmarkt im Parlament durchzusetzen, dürfte ihr Vater zwar auch in Zukunft Naproxen in den Apotheken finden, aber vielleicht kommt es dann aus Indien. „Oder die USA übernehmen unseren Pharmamarkt und diktieren uns ihre Preise. Jeder weiß, wie teuer die Gesundheitsversorgung in Amerika ist. Das kann der NHS nicht bezahlen.“ Überlebenspakete für den Ernstfall Die 35 000-Einwohner-Stadt Bishop’s Stortford liegt zwischen Cambridge und London. Hester Tingey hält auf ihrem Anwesen Hühner. Eine Ziege soll bald dazukommen. Ziegenmilch sei sehr nahrhaft, sagt die 52-Jährige. Sie kann ihre Hühner kaum bändigen. Sie folgen Tingey durch die geöffnete Haustür in die Küche. Es seien glückliche Hühner und wohl etwas verwöhnt, meint sie. „Leider legen sie nicht so viele Eier.“Die Britin bereitet sich auf eine Zukunft vor, in der Hühner und eine Ziege für die eigene Versorgung wichtig sein könnten. Die Gegenwart beschäftigt ihren Mann Fred und sie mit einer Geschäftsidee, die beide dem Brexit verdanken. Die Tingeys packen Konservendosen, Nudeln, Reis und Tee in Pakete und verschicken sie für 100 Pfund auf Bestellung im Internet als „Brexit Survival Packs“. Überlebenspakete für den „Brexigeddon“, wie es auf ihrer Internetseite heißt, die Apokalypse nach dem Brexit. Die Pakete und ihr Inhalt stehen in einer ehemaligen Werkstatt in Tingeys Haus. Eine wichtige Zutat ist die Würzpaste Marmite. Der nach Maggi schmeckende Hefeextrakt wird in Großbritannien gern auf das Sandwich geschmiert und gilt auch als gute Quelle für Vitamin B.
Eigentlich sei die Idee mit den Überlebenspaketen nur ein Witz gewesen, erklärt Tingey. Sie und ihr Mann stellten das Angebot Ende 2018 online, um auf die vielen ungelösten Fragen rund um den Brexit aufmerksam zu machen. Das Ehepaar war erstaunt, als die ersten Bestellungen eingingen. Die haltbaren Lebensmittel häufen sich inzwischen auf einem Regal in der Werkstatt. Kartons warten darauf, dass zehn Helfer sie packen und verschicken. Die Kunden sollen ihre Pakete rechtzeitig vor dem Austrittsdatum erhalten. Wenn es bis dahin eine Lösung gibt, die keinen Versorgungsengpass erwarten lässt, könnten die Käufer ihre Nudeln in Ruhe aufbrauchen und sich Zeit lassen, das Marmite aufs Brot zu schmieren. Die meisten sind gelassen „Bei uns bestellen Leute, die auf Nummer sicher gehen wollen“, sagt sie. Gerade in London könnte es schwierig werden nach einem ungeregelten Brexit, meint Tingey. Sie selbst könne sich auf dem Land ja mit ihren Hühnern und aus ihrem Garten versorgen. Die meisten Menschen seien derzeit noch gelassen. Leere Supermarktregale sind in Bishop’s Stortford, in Cambridge oder London nicht zu finden. Nur wenige ziehen es in Betracht, dass tatsächlich etwa Klopapier bald Mangelware sein könnte. „Die Menschen können sich nicht vorstellen, dass wirklich etwas passiert“, sagt Tingey.
Als vor einiger Zeit ein japanisches Fernsehteam die Tingeys besuchte, erhielt die Familie kurz danach auf Facebook Drohungen und Hassmails. „Die Leute meinten, wir seien schuld, wenn Firmen wie Nissan Großbritannien verlassen“, sagt Tingey und verhehlt nicht, dass sie sich eine Wirkung ihrer Überlebenspakete auf die Brexitdebatte erhofft. Schlagzeilen im Ausland seien ja vielen Briten unangenehm, meint sie. „Wir sehen das als Chance, das Nachdenken anzuregen. Es gibt so viel Apathie im Land“, sagt die Brexitgegnerin. Sie erwartet, dass die wahrscheinliche Verschiebung des Brexits das Tor öffnet für ein neues Referendum über den EU-Austritt. „Dann werden die Menschen die wirtschaftlichen Folgen noch deutlicher spüren und für ,Remain’ stimmen“, meint sie. Tingey denkt, dass es erst schlechter werden muss, bevor es besser wird. „Angst und Trauer“ Die Londonerin Anja Heilmann würde sich wohl gern eine Scheibe abschneiden von Tingeys Zuversicht. Auch sie hält ein weiteres Referendum derzeit für wahrscheinlicher als jemals zuvor. Dass ein Votum für den Verbleib in der EU sicher wäre, glaubt die 42-Jährige nicht. Heilmann sitzt im Café Le Pain Quotidien an der Tottenham Court Road im zentralen Fitzrovia-Distrikt unweit des University College of London. Heilmann lehrt dort öffentliche Gesundheit. Sie und ihr Mann sind 2006 aus Deutschland nach London gezogen. 2019 ist ihr das Land, das sie immer noch ihre Heimat nennt, zu fremd geworden für eine Prognose. Sie beschreibt ihren derzeitigen Gefühlszustand mit den Worten Angst und Trauer. Dabei fühlt sich Heilmann unter den EU-Expats in London noch privilegiert. „Wir leben lange genug in London, also konnten wir die doppelte Staatsbürgerschaft beantragen“, sagt sie. Es sollte noch vor dem 29. März klappen, meint Heilmann. Sie klingt, als ginge es darum, es gerade noch ins Ziel zu schaffen. Heilmann ist Teil der Kampagne „EU-Citizens’-Champion“, setzt sich für die Interessen von 3,7 Millionen EU-Bürgern in Großbritannien ein: polnische Klempner, Softwareingenieure aus Estland oder Akademikerinnen wie sie selbst. Viele Europäer erlebten die letzten Wochen vor dem Brexit als Existenzkrise, sagt Heilmann. Viele verzweifelten bei der Anmeldung für den sogenannten „settled status“. So heißt der neue Aufenthaltsstatus für EU-Bürger, die länger als fünf Jahre in Großbritannien leben. Die Antragsteller müssen einiges per App erledigen. Die ist aber nur mit dem Android-System, nicht mit einem iPhone kompatibel. Das Hochladen von Dokumenten funktioniere oft nicht und Hilfe von der Ausländerbehörde gebe es kaum, meint Heilmann. Schlimmer noch, niemand werde benachrichtigt, dass die Beantragung eines „settled status“Vorschrift sei. „Es gibt Europäer, die schon 40 oder 50 Jahre hier leben und gar nicht daran denken, dass sie etwas ändern müssen. Vielleicht sind sie bald als Illegale hier“, sagt Heilmann. Bei der Brexit-Kampagne vor dem Referendum 2016 war versprochen worden, dass sich für EU-Bürger nach einem Austritt nichts ändern werde. Heilmann findet, dass das Prozedere deutlich macht, wie sich das Recht auf Aufenthalt zu einer Gunst wandelt, die gewährt wird oder nicht. „Es heißt, dass die Anträge nur eine Formalie sind. Aber ein Antrag kann abgelehnt werden“, sagt Heilmann. Sie erschreckt der Zungenschlag von Regierungsmitgliedern. Tory-Politiker sprächen neuerdings von einer heimatlosen Elite, die auf der Suche nach den besten Jobs und Lebensbedingungen in einer globalisierten Welt unterwegs sei. Dass London eine der ersten Adressen in der Welt für qualifizierte Arbeitskräfte aus allen möglichen Ländern ist, belegt schon der Augenschein bei einer Fahrt mit der Metro, die hier Tube heißt. Die Tories wollten ein anderes London als die Weltstadt im wahrsten Sinne des Wortes, fürchtet die Deutsche. Keine Basis mehr Sicher, in ihrem Umfeld kenne sie niemanden, der ausländerfeindlich sei. „Aber ich bewege mich in meiner Filterblase.“Bei Demonstrationen gegen den Brexit meinte eine Befürworterin des Austritts ihr gegenüber, dass Deutschland doch auch ein schönes Land zum Leben sei, erzählt sie. Dennoch spricht Heilmann immer noch von „wir“, wenn sie von den Briten redet. „Wir müssen uns dem Rechtsruck entgegenstellen“, sagt sie zum Beispiel. Sie werde Großbritannien nur verlassen, wenn keine andere Möglichkeit bleibt. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob diese Feindseligkeit wieder eingefangen werden kann, selbst wenn der Brexit nicht passiert.“Heilmann meint, dass sie sich durch das Brexitreferendum unwiderruflich verändert hat – genau wie das Land. „Die Basis für mein Leben ist weg“, sagt sie.
„Oder die USA übernehmen unseren Pharmamarkt und diktieren uns ihre Preise.“ Liv Gillman, Engländerin „Ich bin mir nicht sicher, ob diese Feindseligkeit wieder eingefangen werden kann.“ Anja Heilmann, Exildeutsche