Konzentration gilt dem Kampf gegen Corona
Entscheidung, die EU-MDR zu verschieben, wird von Firmen, Verbänden und Politik begrüßt
TUTTLINGEN - Das Inkrafttreten der europäischen Medizinprodukteverordnung (EU-MDR) soll um ein Jahr verschoben werden. Diesen Vorschlag hat die Europäische Kommission am Mittwoch unterbreitet (wir haben berichtet). Zwar steht die Entscheidung von EU-Rat und -Parlament genauso aus wie ein neuer Termin. Die Ankündigung sorgt bei Firmen, Verbänden und Politikern – gerade wegen der Ausbreitung des Coronavirus – für Erleichterung.
„Wir sind sehr froh, dass unsere Appelle in Brüssel Gehör gefunden haben. Eine andere Entscheidung wäre unter den momentanen Umständen auch nicht zu vertreten gewesen“, teilen Yvonne Glienke und Julia Steckeler, Geschäftsführerinnen der Tuttlinger Cluster-Initiative Medical Mountains, in einer Stellungnahme mit. Schließlich sei die gesamte Infrastruktur zur Zertifizierung nach dem neuen EU-Recht seit der Ausbreitung des Coronavirus zusammengebrochen, meint Steckeler. „Die Zertifizierten Stellen verschwinden von der Bildfläche, sagen die Audits ab“, berichtet sie.
Schon die Umsetzung der Richtlinie bis zum ursprünglichen Termin am 26. Mai 2020 hätte viele Firmen wahrscheinlich überfordert. In einer Umfrage von Medical Mountains und dem Industrieverband Spectaris hatten 34 Prozent der 365 teilnehmenden Medizintechnik-Unternehmen erklärt, dass ihre bisherige Benannte Stelle noch nicht nach den neuen Vorgaben zertifizieren könne. Die Einführung bereits entwickelter innovativer Medizinprodukte würde sich um durchschnittlich 20 Monate verzögern. Tätigkeiten im Bereich Forschung und Entwicklung würden MDR-bedingt um rund 18 Monate zurückgestellt, teilt Medical Mountains nach Auswertung der Umfrage mit.
Dies, meint Steckeler, sei in der heutigen Zeit nicht tragbar. „Die Medizintechnik-Unternehmen müssen sich auf die Produktion konzentrieren. Es geht nicht, dass Mitarbeiter aus der Entwicklung für die Dokumentation abgezogen werden, jetzt werden sie in der Forschung benötigt. Die Firmen müssen sich darauf konzentrieren, Lösungen zu erarbeiten und an der Überwindung der Corona-Krise mitzuhelfen“, sagt die Geschäftsführerin von Medical Mountains. Sie befürchtet auch trotz des zeitlichen Aufschubs bei der EUMDR einen Engpass bei medizinischen Produkten. „Bei der Schutzkleidung merkt man den Riesenbedarf.
Auch bei den Beatmungsgeräten brauchen wir schnell Zulassungen. Gerade weil neue Firmen auf den Markt wollen“, sagt Steckeler.
Für Joachim Schulz, Vorstandsvorsitzender von Aesculap, ist klar, dass das „Augenmerk – von Unternehmen, Behörden, EU-Kommission und Benannten Stellen – stets darauf gerichtet sein muss, alles dafür zu tun, dass Patienten, Krankenhäuser, Labore und Gesundheitssysteme ununterbrochen Zugang zu sicherer und innovativer Medizintechnik haben“. Er begrüßt das Vorhaben der EU-Kommission. „Aus unserer Sicht ist es in dieser allgegenwärtigen Situation richtig, das gesamte System zu entlasten.“Die MedizintechnikBranche werde sich dennoch intensiv und mit Hochdruck der Neuzertifizierung der Produktportfolios widmen. „Wir werden weiter unsere Energie darauf konzentrieren, alle Anforderungen so schnell wie möglich zu erfüllen und unsere gesamte Dokumentation anzupassen. Ein funktionstüchtiges System der Benannten Stellen ist und bleibt der entscheidende Faktor.“
Bei Karl Storz wird das bereichsübergreifende MDR-Team auch in der aktuellen Corona-Situation vollständig operativ tätig sein. Das erklärte Unternehmenssprecherin Regina Stern. „Wir sehen den GesetzesVorstoß der EU-Kommission, die MDR um ein Jahr zu verschieben, als sinnvoll und nachvollziehbar an. Die enge Zeitplanung bei der MDR-Umsetzung stellt in der aktuellen Situation für viele Unternehmen eine enorme Herausforderung dar. Hinzukommt, dass Medizintechnik-Unternehmen ihren Fokus neben einer Grundversorgung vor allem auch auf die Produkte legen, die für die Behandlung von Corona-Patienten elementar sind. Bei Karl Storz handelt es sich dabei um Intubationsendoskope sowie Bronchoskope. Wir werden weiter alle Ressourcen – im MDR-Projekt sowie mit absoluter Priorität in allen krisenkritischen Bereichen – dafür einsetzen, dass wir
ANZEIGE unserer Versorgungsrolle für das Gesundheitswesen gerecht werden.“
Die Firma Henke-Sass, Wolf begrüßt die Entscheidung, die zur richtigen Zeit getroffen worden sei, teilt Unternehmenssprecher Kevin Rodgers. Es sei grundsätzlich gut, dass die Unternehmen zusätzliche Zeit für die finale Umsetzung der EUMDR bekommen. „Wir sind generell gut vorbereitet. Gleichwohl sind einige Rahmenbedingungen wie die Verfügbarkeit der Benannten Stellen aus unserer Sicht nach wie vor unzureichend. Insofern kommt der geplante Aufschub allen beteiligten Akteuren zugute, auch den Behörden und den Benannten Stellen“, schreibt Rodgers von Henke, Sass Wolf. Auch die zusätzlichen zwölf Monate dürften schnell vergangen sein, „aber sie entspannen die Situation doch erheblich. Es ist zu erwarten, dass innerhalb dieses Jahres alle Stellen benannt sind, die die Benennung beantragt haben und dann auch schon MDR-Audits und Zertifizierungen durchgeführt werden können. Bei Henke-Sass, Wolf ist kein Engpass bei medizinischen Produkten zu befürchten.“
Positive Resonanz auf das Vorhaben aus Brüssel gibt es auch von Politikern. „Ich freue mich, dass die EUKommission angekündigt hat, mit Blick auf die Covid 19-Krise das Inkrafttreten der EU-MDR um ein Jahr zu verschieben“, sagte Baden-Württembergs Justizminister Guido Wolf. Julia Steckeler geht davon aus, dass der Stichtag pragmatisch um ein Jahr verlegt wird. Dann müssten alle Medizinprodukte zum 26. Mai 2021 neu zertifiziert sein. Klarheit gibt es vor der Entscheidung von EU-Rat und -Parlament nicht.
„Wir haben kein Schriftstück. Wir wissen es nicht“, sagt Steckeler. Weil Stefan de Keersmaecker, Sprecher der Kommission für Gesundheit, Lebensmittelsicherheit und Transport, die Gremien aufforderte, den Vorschlag rasch anzunehmen, dürfe man, so Steckeler, mit der Verschiebung rechnen. „Alles andere, wäre seltsam.“