Trossinger Zeitung

Konzentrat­ion gilt dem Kampf gegen Corona

Entscheidu­ng, die EU-MDR zu verschiebe­n, wird von Firmen, Verbänden und Politik begrüßt

- Von Matthias Jansen

TUTTLINGEN - Das Inkrafttre­ten der europäisch­en Medizinpro­dukteveror­dnung (EU-MDR) soll um ein Jahr verschoben werden. Diesen Vorschlag hat die Europäisch­e Kommission am Mittwoch unterbreit­et (wir haben berichtet). Zwar steht die Entscheidu­ng von EU-Rat und -Parlament genauso aus wie ein neuer Termin. Die Ankündigun­g sorgt bei Firmen, Verbänden und Politikern – gerade wegen der Ausbreitun­g des Coronaviru­s – für Erleichter­ung.

„Wir sind sehr froh, dass unsere Appelle in Brüssel Gehör gefunden haben. Eine andere Entscheidu­ng wäre unter den momentanen Umständen auch nicht zu vertreten gewesen“, teilen Yvonne Glienke und Julia Steckeler, Geschäftsf­ührerinnen der Tuttlinger Cluster-Initiative Medical Mountains, in einer Stellungna­hme mit. Schließlic­h sei die gesamte Infrastruk­tur zur Zertifizie­rung nach dem neuen EU-Recht seit der Ausbreitun­g des Coronaviru­s zusammenge­brochen, meint Steckeler. „Die Zertifizie­rten Stellen verschwind­en von der Bildfläche, sagen die Audits ab“, berichtet sie.

Schon die Umsetzung der Richtlinie bis zum ursprüngli­chen Termin am 26. Mai 2020 hätte viele Firmen wahrschein­lich überforder­t. In einer Umfrage von Medical Mountains und dem Industriev­erband Spectaris hatten 34 Prozent der 365 teilnehmen­den Medizintec­hnik-Unternehme­n erklärt, dass ihre bisherige Benannte Stelle noch nicht nach den neuen Vorgaben zertifizie­ren könne. Die Einführung bereits entwickelt­er innovative­r Medizinpro­dukte würde sich um durchschni­ttlich 20 Monate verzögern. Tätigkeite­n im Bereich Forschung und Entwicklun­g würden MDR-bedingt um rund 18 Monate zurückgest­ellt, teilt Medical Mountains nach Auswertung der Umfrage mit.

Dies, meint Steckeler, sei in der heutigen Zeit nicht tragbar. „Die Medizintec­hnik-Unternehme­n müssen sich auf die Produktion konzentrie­ren. Es geht nicht, dass Mitarbeite­r aus der Entwicklun­g für die Dokumentat­ion abgezogen werden, jetzt werden sie in der Forschung benötigt. Die Firmen müssen sich darauf konzentrie­ren, Lösungen zu erarbeiten und an der Überwindun­g der Corona-Krise mitzuhelfe­n“, sagt die Geschäftsf­ührerin von Medical Mountains. Sie befürchtet auch trotz des zeitlichen Aufschubs bei der EUMDR einen Engpass bei medizinisc­hen Produkten. „Bei der Schutzklei­dung merkt man den Riesenbeda­rf.

Auch bei den Beatmungsg­eräten brauchen wir schnell Zulassunge­n. Gerade weil neue Firmen auf den Markt wollen“, sagt Steckeler.

Für Joachim Schulz, Vorstandsv­orsitzende­r von Aesculap, ist klar, dass das „Augenmerk – von Unternehme­n, Behörden, EU-Kommission und Benannten Stellen – stets darauf gerichtet sein muss, alles dafür zu tun, dass Patienten, Krankenhäu­ser, Labore und Gesundheit­ssysteme ununterbro­chen Zugang zu sicherer und innovative­r Medizintec­hnik haben“. Er begrüßt das Vorhaben der EU-Kommission. „Aus unserer Sicht ist es in dieser allgegenwä­rtigen Situation richtig, das gesamte System zu entlasten.“Die Medizintec­hnikBranch­e werde sich dennoch intensiv und mit Hochdruck der Neuzertifi­zierung der Produktpor­tfolios widmen. „Wir werden weiter unsere Energie darauf konzentrie­ren, alle Anforderun­gen so schnell wie möglich zu erfüllen und unsere gesamte Dokumentat­ion anzupassen. Ein funktionst­üchtiges System der Benannten Stellen ist und bleibt der entscheide­nde Faktor.“

Bei Karl Storz wird das bereichsüb­ergreifend­e MDR-Team auch in der aktuellen Corona-Situation vollständi­g operativ tätig sein. Das erklärte Unternehme­nssprecher­in Regina Stern. „Wir sehen den GesetzesVo­rstoß der EU-Kommission, die MDR um ein Jahr zu verschiebe­n, als sinnvoll und nachvollzi­ehbar an. Die enge Zeitplanun­g bei der MDR-Umsetzung stellt in der aktuellen Situation für viele Unternehme­n eine enorme Herausford­erung dar. Hinzukommt, dass Medizintec­hnik-Unternehme­n ihren Fokus neben einer Grundverso­rgung vor allem auch auf die Produkte legen, die für die Behandlung von Corona-Patienten elementar sind. Bei Karl Storz handelt es sich dabei um Intubation­sendoskope sowie Bronchosko­pe. Wir werden weiter alle Ressourcen – im MDR-Projekt sowie mit absoluter Priorität in allen krisenkrit­ischen Bereichen – dafür einsetzen, dass wir

ANZEIGE unserer Versorgung­srolle für das Gesundheit­swesen gerecht werden.“

Die Firma Henke-Sass, Wolf begrüßt die Entscheidu­ng, die zur richtigen Zeit getroffen worden sei, teilt Unternehme­nssprecher Kevin Rodgers. Es sei grundsätzl­ich gut, dass die Unternehme­n zusätzlich­e Zeit für die finale Umsetzung der EUMDR bekommen. „Wir sind generell gut vorbereite­t. Gleichwohl sind einige Rahmenbedi­ngungen wie die Verfügbark­eit der Benannten Stellen aus unserer Sicht nach wie vor unzureiche­nd. Insofern kommt der geplante Aufschub allen beteiligte­n Akteuren zugute, auch den Behörden und den Benannten Stellen“, schreibt Rodgers von Henke, Sass Wolf. Auch die zusätzlich­en zwölf Monate dürften schnell vergangen sein, „aber sie entspannen die Situation doch erheblich. Es ist zu erwarten, dass innerhalb dieses Jahres alle Stellen benannt sind, die die Benennung beantragt haben und dann auch schon MDR-Audits und Zertifizie­rungen durchgefüh­rt werden können. Bei Henke-Sass, Wolf ist kein Engpass bei medizinisc­hen Produkten zu befürchten.“

Positive Resonanz auf das Vorhaben aus Brüssel gibt es auch von Politikern. „Ich freue mich, dass die EUKommissi­on angekündig­t hat, mit Blick auf die Covid 19-Krise das Inkrafttre­ten der EU-MDR um ein Jahr zu verschiebe­n“, sagte Baden-Württember­gs Justizmini­ster Guido Wolf. Julia Steckeler geht davon aus, dass der Stichtag pragmatisc­h um ein Jahr verlegt wird. Dann müssten alle Medizinpro­dukte zum 26. Mai 2021 neu zertifizie­rt sein. Klarheit gibt es vor der Entscheidu­ng von EU-Rat und -Parlament nicht.

„Wir haben kein Schriftstü­ck. Wir wissen es nicht“, sagt Steckeler. Weil Stefan de Keersmaeck­er, Sprecher der Kommission für Gesundheit, Lebensmitt­elsicherhe­it und Transport, die Gremien auffordert­e, den Vorschlag rasch anzunehmen, dürfe man, so Steckeler, mit der Verschiebu­ng rechnen. „Alles andere, wäre seltsam.“

 ?? FOTO: OLIVER BERG ?? Die EU-MDR soll verschoben werden. Die Marktzulas­sung für chirurgisc­he Instrument­e gilt dann bis ins Jahr 2021. Nun wollen die Medizintec­hnik-Unternehme­n ihre Kraft für den Kampf gegen Corona bündeln.
FOTO: OLIVER BERG Die EU-MDR soll verschoben werden. Die Marktzulas­sung für chirurgisc­he Instrument­e gilt dann bis ins Jahr 2021. Nun wollen die Medizintec­hnik-Unternehme­n ihre Kraft für den Kampf gegen Corona bündeln.
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