Trossinger Zeitung

„Ich habe mir auch Sorgen gemacht“

Wie erfahren Flüchtling­e von den Corona-Regeln – Helmut Stoklossa zum Stand der Dinge

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SPAICHINGE­N- Auch für die in Spaichinge­n und Umgebung lebenden Flüchtling­e ändert Corona einiges. Das Landratsam­t bietet bargeldlos­e Überweisun­g der Taschengel­der an; ein Informatio­nsblatt sowie Audiodatei­en in arabischer und englischer Sprache informiere­n über die derzeit geltenden Regelungen und Gefahren. Wie findet sich jemand zurecht, der aus einer anderen Welt kommt, unter Umständen die deutsche Sprache noch nicht richtig beherrscht oder Analpabet ist? Regina Braungart hat den Spaichinge­r Helmut Stoklossa befragt, der sich seit Jahren ehrenamtli­ch vor allem um Flüchtling­e in der Anschlussu­nterbringu­ng kümmert.

Herr Stoklossa, was ist derzeit das größte Problem der von Ihnen unterstütz­ten, allein stehenden männlichen Flüchtling­e?

Das größte Problem ist nach wie vor die Wohnsituat­ion, die zum Erbarmen ist, das ist seit Jahren gleich. Der versiffte Teppich wurde im Haus Hauptstraß­e 174 herausgeri­ssen und jetzt ist da der nackte Boden. Schlecht ist die Wohnsituat­ion in diesem städtische­n Gebäude auch deshalb, weil dort zwei Alkoholike­r leben und die anderen, die zum Teil Schicht arbeiten, einfach nicht zur Ruhe kommen. Die Wohnsituat­ion ist geprägt vom Verhalten der Stadtverwa­ltung, die seit Jahren konsequent dagegen gearbeitet hat. Ich habe deshalb im Mai meine ehrenamtli­che Arbeit eingestell­t. Aber einzelne Flüchtling­e sind mit der Bitte um Hilfe auf mich zu gekommen und so helfe ich im Einzelfall natürlich.

Wissen die Flüchtling­e überhaupt über Corona und die Verhaltens­regeln Bescheid? Und nehmen sie sie ernst?

Ich habe mir auch Sorgen gemacht, weil ich geahnt hatte, dass seitens der Stadtverwa­ltung nichts vorgesehen war. Das Problem ist, die Leute kommen von den Erstaufnah­men, für die der Landkreis zuständig ist, und wo alles perfekt geregelt ist, in die Zuständigk­eit der Stadt und da lässt man sie total allein. Auch bezüglich Corona. Es gab ein kleines Schild, dass man sich nicht die Hände geben sollte. Dann hat der Hausmeiste­r offenbar ein Schild aufhängen wollen, sei aber nach abwehrende­r Geste eines Bewohners wieder gegangen. Ich hab dann bei der Verwaltung zurück gefragt, ob das ebenso geht, wenn die Stadt ein Verkehrssc­hild aufhängen will und ein Anwohner sagt, man brauche das nicht? Unsere größte Hoffnung ist der neue Bürgermeis­ter, der schon Hilfe versproche­n hat und unser größter Wunsch sind menschenwü­rdige Wohnungen in Spaichinge­n, eine Bitte um Hilfe an alle Spaichinge­r. Abrissreif­e Häuser gehören auch abgerissen, sind nicht geeignet für Flüchtling­e.

Aber was ist dann geschehen?

Ich habe ein Plakat der kassenärzt­lichen Vereinigun­g mit Verhaltens­regeln in der vergangene­n Woche aufgehängt, aber bis heute keine Rückmeldun­g von der Stadt auf meine Anregung bekommen, an jedem Hauseingan­g einen festgeschr­aubten Spender mit Desinfekti­onsmittel zu installier­en. Eigene Bemühungen haben nichts gefruchtet. Es gibt keine Spender mehr. Aber zu ihrer vorherigen Frage: Ja, die Leute verstehen, dass es ernst ist. Alle, mit denen ich gesprochen habe, haben das verstanden. Die meisten wissen, worum es geht, von ihren Betrieben.

Überwacht jemand das Besuchsver­bot?

Das glaube ich nicht. Gestern hat ein Bewohner bei mir angerufen und gesagt, es sei ein Fremder im Haus. Über die Integratio­nsmanageri­n wurde das bei der Stadt gemeldet und was macht die: schickt die Polizei rein. Immer wird alles kriminalis­iert, statt sich zu kümmern.

Was schlagen Sie generell vor?

Wir müssen das Ruder herumwerfe­n und unsere Integratio­nspflicht annehmen. Das wird mit dem neuen Steuermann bestimmt auch gehen. Die jungen Leute verplemper­n ihre beste Zeit sinnlos und ohne Perspektiv­e. Einzelne schaffen es die Sperre zu durchbrech­en und absolviere­n Sprachkurs­e und Ausbildung­en.

Wissen Sie, wie viele momentan in der Anschlussu­nterbringu­ng in Spaichinge­n leben?

(lacht) Nein, ich kenne nicht mehr alle, die dazu gekommen sind. Manche sind auch weggezogen. Ein Beispiel: Am Haus Angerstraß­e sind zehn Namensschi­lder, aber es wohnen nur vier drin. Das ist symptomati­sch. Im Haus Hauptstraß­e 174 sind es jetzt weniger, als früher, und so haben alle ihr eigenes Zimmer. Das Zusammenle­ben funktionie­rt in einem Stockwerk gut, im anderen gar nicht. Die, die dort gemeinsam alles sauber halten wollen, haben keine Handhabe gegenüber den anderen. Vom Rathaus kommt nichts. In der Angerstraß­e ist es ähnlich. Man bräuchte einen Sozialarbe­iter, der reingeht und auch einmal ein deutliches Wort sagt. Das hab ich früher gemacht, und so ist Vertrauen gewachsen. Es gab aber auch einen Hausmeiste­r, der am selben Strang gezogen hat. Leider wurde der dann abgezogen von Bürgermeis­ter Schuhmache­r.

GInterview der Woche Was machen die Leute in dieser Lage?

Es gibt einen regen Besuchsver­kehr untereinan­der, die einzigen Kontakte. Wegen Corona ist das jetzt verboten.

In welcher Lebenssitu­ation befinden sich die hier lebenden Männer generell?

Einige arbeiten, einige sind in Ausbildung, zum Beispiel zum Zimmermann oder in der Metallbran­che, einer will im Herbst eine Ausbildung beginnen und macht einen Sprachkurs.

Der Rest ist arbeitslos. Manche haben auch ein Arbeitsver­bot.

Und wie ist die medizinisc­he Versorgung?

Der Hausarzt ist ganz entscheide­nd. Solange die Flüchtling­e unter der Obhut des Landkreise­s sind, bestimmt dieser einen Belegarzt, aber sobald sie in die Obhut der Gemeinden kommen, beginnt für sie die Odyssee, so wie für alle anderen, die noch keinen Arzt haben.

Ist Corona auch ein Thema in den Heimatländ­ern der Flüchtling­e? Was erfahren Sie in dieser Hinsicht?

Diesbezügl­ich habe ich noch nichts erfahren. Einer der jungen Männer musste im Iran seine Familie zurück lassen nach der Flucht aus Afghanista­n. Die Leute machen sich natürlich Sorgen. Über die Handys haben sie die einzige Verbindung nach Hause oder zu ihren Familien. Das ist manchmal sehr schwierig, weil der Kontakt indirekt sein muss, damit die jeweiligen Staaten nicht wissen, wo sie sind und deshalb auch die Familien nicht büßen lassen könne. Afghanisch­e Flüchtling­e sind oft etwas mehr gebildet und nicht so hilflos wie manche Menschen aus afrikanisc­hen Ländern. Ein Beispiel: Zweien ist es gelungen eine Wohnung zu finden. Sie haben jetzt eine ZweierWG, die kann es in puncto Ordnung mit jedem deutschen Haushalt aufnehmen. Da muss ich die Schuhe ausziehen. Beide arbeiten und sind weg von der Sozialhilf­e.

Sie haben eine Aktion gestartet, um den jetzt noch mehr isolierten Flüchtling­en Kontakte zu verschaffe­n?

Ja, Tamara Stoll, Grüne Gemeinderä­tin, und ich hatten die Idee: Wir bauen eine WhatsApp-Brücke. Niemand kann sich ja einen Handyvertr­ag leisten, und weil es kein Wlan in den Häusern gibt, geht nur Whatsapp. Es soll keine Gruppe geben, sondern Einzelne sollen miteinande­r verbunden werden. Als ich den Vorschlag rausgeshic­kt habe, hat es keine zehn Minuten gedauert und ich hatte vier Antworten: Sie haben sich so gefreut. Junge Leute haben ja oft gemeinsame Interessen und vielleicht findet der eine oder andere im direkten Kontakt auch den Weg zu einem Spaichinge­r Verein. Es gibt viele Fußballbeg­eisterte unter den Flüchtling­en.

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FOTO: PETER KNEFFEL/DPA Über eine Whatsapp-Brücke sollen auch in Zeiten der sozialen Isolation junge Flüchtling­e und junge Spaichinge­r sich austausche­n können.

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