Wegweiser für schwierigste Entscheidungen
Der Ethikrat stellt seine Empfehlungen zum Umgang mit der Corona-Krise vor
BERLIN (KNA) - Die Bewältigung der Corona-Krise stellt die gesamte Gesellschaft, besonders aber Politiker und Mediziner, vor völlig neue Entscheidungen. Ärzte müssen möglicherweise über Leben und Tod von Patienten befinden, und Parlamentarier darüber, welche Lasten für Staat und Gesellschaft noch tragfähig sind. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bat deshalb den Deutschen Ethikrat um Wegweisung. Am Freitag legte das Gremium in Berlin „Ad-hoc-Empfehlungen“zur „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“vor.
Die Freiheitsbeschränkungen sieht der Ethikrat in Abwägung mit anderen Vorgehensweisen als ethisch vertretbar an. Ebenso die „erheblich belastenden Begleitschäden“. Er betont aber die absolute Ausnahmesituation. Die Politik sollte deshalb ständig Folgelasten prüfen und die Einschränkungen möglichst bald lockern. Mit seinen Empfehlungen will das Gremium „Kriterien und Verhaltensmaßgaben skizzieren“, wie und wann zu einer Normalisierung zurückgekehrt werden kann.
Gleich zu Beginn hebt das Papier den Vorrang der Politik hervor: „Wissenschaftliche Beratung der Politik
ist wichtig, sie kann und darf diese aber nicht ersetzen.“Und pointiert lautet der letzte Satz der 16-seitigen Expertise: „Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legitimierten Politik.“Einer Herrschaft der Wissenschaftler erteilen die Ratsmitglieder also eine Absage.
Den ethischen Kernkonflikt sieht die Studie darin, dass ein leistungsfähiges Gesundheitssystem gesichert werden muss und zugleich schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft möglichst gering zu halten sind. Der Orientierungspunkt für die kommende Zeit bei der Behandlung von CoronaPatienten sollte dabei in der Vermeidung von „Triage-Situationen“liegen. Dabei muss der Arzt wegen fehlender intensivmedizinischer Ressourcen darüber entscheiden, wen er noch behandelt und wen er möglicherweise sterben lässt. Wie drängend diese Frage ist, zeigt die Lage im Elsass. Dort werden nach jüngsten Berichten Patienten über 80 Jahre nicht länger beatmet, sondern erhalten „Sterbebegleitung mit Opiaten und Schlafmitteln“. Für den Ethikrat ist dies nicht zu rechtfertigen: Eine Auswahl nach sozialem Status, Herkunft, Alter oder Behinderung müsse ausgeschlossen werden, heißt es. Notwendig seien stattdessen transparente und möglichst einheitliche Kriterien, wie sie bereits einige medizinische Fachgesellschaften aufgestellt hätten. Dabei ist etwa die Überlebenschance ein wesentliches Kriterium.
Der Staat selbst darf nach Auffassung des Rates „menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation zu retten ist“. Denn er muss auch und gerade in Katastrophensituationen die Rechtsordnung garantieren.
Bei der brennenden Frage, wie lange ein Lockdown der gesamten Gesellschaft zu rechtfertigen ist, verweist die Expertise auf eine „komplexe Güterabwägung“. Dabei macht der Rat geltend, dass eine funktionierende Marktwirtschaft gebraucht werde und der Sozialstaat auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit angewiesen sei. Ferner erinnert er an die sozialpsychologischen Folgen, von der Vereinsamung und häuslichen Gewalt bis zur Einschränkung anderweitiger medizinischer Versorgung.