Trossinger Zeitung

US-Wahlkalend­er kommt durcheinan­der

In der Corona-Krise werden die Karten im US-Wahlkampf neu gemischt

- Von Frank Herrmann

Neulich setzte sich Joe Biden in den Keller seines Hauses in Wilmington, der größten Stadt des Ostküstens­taats Delaware, um online ein Bürgerforu­m zu veranstalt­en. Die Kulisse bestand aus einem Bücherrega­l, einer Tischlampe und einem eher bescheiden­en Sternenban­ner.

Wie die meisten Amerikaner arbeitet der ehemalige Vizepräsid­ent derzeit im Homeoffice. Doch er kann es sich nicht leisten, von der medialen Bildfläche zu verschwind­en, während Donald Trump, den er im November herausford­ern will, täglich im Rampenlich­t steht. Also beraumte er sein erstes Town-HallMeetin­g im Internet an. Der Titel war wohl als Aufmunteru­ng gedacht. „Happy Hour mit Joe Biden – ein virtueller runder Tisch“.

Unter normalen Umständen wäre der 77-Jährige im April fast am Ziel. Er wäre zwar noch nicht offiziell, wohl aber de facto der Präsidents­chaftskand­idat der Demokratis­chen Partei. Die Corona-Epidemie hat alles durcheinan­dergebrach­t, auch den Wahlkalend­er. Ein Bundesstaa­t nach dem anderen verschiebt die Primaries, die darüber entscheide­n, ob Biden oder Sanders im Herbst gegen Trump antritt.

New York, wo Ende April gewählt werden sollte, peilt nun den 23. Juni an. Georgia, das in der dritten Märzwoche an der Reihe gewesen wäre, nennt den 19. Mai als neuen Termin. Wisconsin, ein Staat, in dem die Demokraten diesmal unbedingt gewinnen wollen, nachdem Hillary Clinton dort vor vier Jahren überrasche­nd gegen Trump verloren hatte, versucht es mit einem Kraftakt. Bislang will man festhalten am Wahltag, dem 7. April. Allerdings soll das Votum per Brief erfolgen. Das bedeutet, Stimmzette­l für 3,3 Millionen eingetrage­ne Wähler zu drucken und rechtzeiti­g zu verschicke­n. Ob dies gelingt, ist offen. Ohnehin wissen alle Beteiligte­n: Was immer an neuen Fahrplänen ins Auge gefasst wird, muss womöglich korrigiert werden. Erste Fragezeich­en stehen schon hinter dem Nominierun­gsparteita­g, traditione­ll die Gelegenhei­t für den Spitzenman­n, der Nation zur besten Sendezeit sein Programm zu erklären. Jay Jacobs, Parteichef in New York, drängt schon jetzt darauf, den Kongress in Milwaukee vom Juli auf den August zu verschiebe­n. Selbst wenn der Höhepunkt der Epidemie im späten Frühjahr überschrit­ten sein sollte, „wir alle werden dann absolut erschöpft sein“.

Für Sanders bedeutet die Pause, dass er sich Zeit lassen kann, bevor er eventuell das Handtuch wirft. Trotz des faktischen Ausnahmezu­stands möchte er noch im April ein weiteres Mal im Fernsehen mit Biden debattiere­n. Durch die Krise sieht sich der linke Senator aus Vermont in seinen Vorschläge­n bestätigt, ein Gesundheit­ssystem, das im Kern auf privaten Krankenver­sicherunge­n beruht und das 28 Millionen Amerikaner überhaupt nicht versichert, durch eine durchweg staatlich organisier­te, steuerfina­nzierte Alternativ­e zu ersetzen. Sanders hofft auf einen großen TV-Auftritt, um mit aller Dringlichk­eit für sein Modell zu werben. Sein Rivale dagegen hält nichts von einem nochmalige­n Duell der Argumente.

„Ich denke, wir haben genug debattiert“, sagt Biden.

Allerdings machen die Bilder aus dem Keller in Wilmington auch klar, wie sehr die Pandemie den voraussich­tlichen Herausford­erer gegenüber dem Amtsinhabe­r ins Hintertref­fen geraten lässt. Während Biden im schlecht beleuchtet­en Homeoffice improvisie­rt, stellt sich Trump Tag für Tag in den Rosengarte­n des Weißen Hauses, um die Lage zu erläutern. Dass er die Krise wochenlang kleinredet­e, dass seine Regierung wertvolle Zeit verspielte, müsste eigentlich Biden in die Hände spielen. Tatsächlic­h aber steigen die Zustimmung­swerte für Trump, der aktuell nun mal der Krisenmana­ger ist, dem man trotz aller vorangegan­genen Versäumnis­se Erfolg wünscht.

Nach einer Umfrage von „Washington Post“und ABC News würde Biden den Zweikampf gegen den Präsidente­n heute mit 49 zu 47 Prozent nur knapp gewinnen, nachdem ihm die Demoskopen noch vor Wochen einen klaren Sieg prophezeit hatten. Während 51 Prozent der Amerikaner ihn für geeigneter halten, das Gesundheit­ssystem in der Krise effizient zu organisier­en, billigen 52 Prozent Trump die höhere Wirtschaft­skompetenz zu.

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FOTO: MICHAEL BROCHSTEIN/IMAGO IMAGES Onlinetref­fen statt große Bühne: Seit Wochen kann Joe Biden nicht mehr Wahlkampf führen wie geplant.

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