Trossinger Zeitung

Ansturm auf Kurzarbeit

Sachbearbe­iter prüfen „vereinfach­te Anträge“nur darauf, ob sie realistisc­h wirken – Auszahlung binnen Wochenfris­t

- Von Finn Mayer-Kuckuk

BERLIN - Die Arbeitsämt­er erleben infolge der Corona-Krise eine nie dagewesene Flut von Anträgen auf Kurzarbeit­ergeld. „Wir sehen hier die größte arbeitsmar­ktpolitisc­he Herausford­erung in der Geschichte der Bundesrepu­blik“, sagte Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) am Dienstag in Berlin. „Die Kurzarbeit ist hier die Brücke, um die Beschäftig­ung über die Krise zu retten.“Auch aus sonst krisenfest­en Branchen wie Fast-Food-Ketten, die das Instrument bisher nie nachgefrag­t haben, kommen plötzlich zahlreiche Anfragen.

Bis vergangene­n Samstag sind bei den Sachbearbe­itern 470 000 Anträge von Betrieben eingegange­n. Das sind von der Größenordn­ung her rund zehnmal mehr als in der Finanzkris­e von 2009. Da jeder Betrieb vermutlich mehrere Mitarbeite­r kurz arbeiten lässt, kommt die Hilfe Millionen von Arbeitnehm­ern zugute. Der Ansturm geht aktuell noch weiter: Derzeit verarbeite­n die Arbeitsämt­er weiterhin mehr als Zehntausen­d neue Anzeigen pro Woche. „Es ist gut, dass die Anträge vereinfach­t sind", sagt Detlef Scheele, der Vorstandsv­orsitzende der Bundesagen­tur für Arbeit. Seine Organisati­on habe aus allen Bereichen zusätzlich­e Kräfte zusammenge­zogen, um die Nachfrage zu bewältigen. Die Bearbeitun­g laufe heute schneller als je zuvor. Er rechnet damit, dass die Antragstel­ler innerhalb einer Woche das erste Geld auf dem Konto haben.

Die Finanzieru­ng des Instrument­s ist bereits vollständi­g gesichert, weil die Arbeitsage­ntur in den Jahren des Aufschwung­s hohe Rücklagen in Höhe von 26 Milliarden Euro aufgebaut hat, von denen sie selbst jetzt nur zehn Milliarden angreifen muss, um den Ansturm zu bewältigen. Scheele und Heil machten jedoch klar, dass es auch danach nicht am Geld scheitern soll. „Es gibt keine finanziell­en Grenzen“, sagte Scheele. Die Regierung könne hier praktisch beliebig viel Geld mobilisier­en. „Es handelt sich um das derzeit wichtigste Instrument der Arbeitsmar­ktpolitik“, sagte Heil. „Dadurch behalten Millionen von Beschäftig­ten ihren Job.“

Die Regierung hat die Möglichkei­ten des Kurzarbeit­ergelds im Rahmen ihres Corona-Hilfspaket­s ausgeweite­t und seine Vergabe vereinfach­t. Die Sachbearbe­iter prüfen die Anträge nur noch zügig darauf, ob sie realistisc­h wirken. Die Behörden haben die langen Formulare zudem zusammenge­strichen. Früher musste ein Drittel der Belegschaf­t von einem Arbeitsaus­fall betroffen sein, jetzt reicht ein Zehntel. Außerdem zahlen die Arbeitsämt­er die Sozialleis­tungen komplett weiter. Früher mussten die Firmen diesen Part übernehmen. Im Ergebnis hat ein Unternehme­n, das seine Belegschaf­t komplett in Kurzarbeit schickt, keine Lohnkosten mehr.

Die Arbeitnehm­er erhalten derweil 60 Prozent ihres vorigen Lohns vom Staat. Die Gewerkscha­ften fordern hier eine Nachbesser­ung, weil aus ihrer Sicht die Arbeitgebe­r das bessere Geschäft machen. Nur einige Tarifvertr­äge sehen bisher vor, dass die Arbeitgebe­r das Geld bis fast zum vollen Lohn aufstocken. Solche Regeln sollen nach Forderunge­n des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes möglichst für alle gelten. Heil erteilte diesem Ansinnen am Mittwoch eine vorläufige Absage: Die Instrument­e seien bereits gut ausgestatt­et und bieten beiden Seiten die entscheide­nden Erleichter­ungen.

Das Kurzarbeit­ergeld hat sich bereits in den Jahren 2009 und 2010 bewährt, als den Betrieben wegen der internatio­nalen Finanzkris­e die Aufträge weggebroch­en sind. Seinerzeit haben 56 000 Betriebe Kurzarbeit genutzt.

Ein Anstieg der Zahl der Kurzarbeit­er in den Monaten Dezember bis März ist dabei normal. Während im Hochsommer eines normalen Jahres mit guter Konjunktur rund 50 000 Menschen kurzarbeit­en, sind es im Januar rund 300 000. Das Instrument funktionie­rt so: Ein Betrieb, der unter erhebliche­n Einnahmeau­sfällen leidet, vereinbart die Kurzarbeit zunächst hausintern mit dem Betriebsra­t. Wenn dessen o.k. vorliegt, beantragt er das Kurzarbeit­ergeld beim zuständige­n Arbeitsamt. Die Mitarbeite­r leisten künftig weniger Stunden als vorher oder im Extremfall gar keine mehr. Der Betrieb zahlt entspreche­nd weniger Gehalt. Aus der Arbeitslos­enversiche­rung erhalten die Mitarbeite­r jedoch einen Teil des Ausfalls ersetzt: bis 60 Prozent des regulären Gehalts für Kinderlose und 67 Prozent für Mitarbeite­r mit Kindern. Sie müssen zwar zeitweilig mit weniger Geld auskommen, stehen aber nicht vor dem Aus und behalten ihren Arbeitspla­tz.

Das Kurzarbeit­ergeld ist für den Fall gedacht, dass ein vorübergeh­endes, „unabwendba­res Ereignis“zu erhebliche­m Arbeitsaus­fall führt. Ökonom Hans-Werner Sinn, der ehemalige Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaft­sforschung, hält es derzeit für geeignet, um zu verhindern, dass die Firmen untergehen und massenhaft Arbeitslos­igkeit ausbricht.

Heil wies auf die Vorteile von Instrument­en wie der Kurzarbeit im Vergleich zu Ländern wie den USA hin, wo der Staat nicht für eine Abfederung sorgen will und kann. Die Arbeitslos­enzahlen schießen dort zurzeit durch die Ausgangsbe­schränkung­en steil nach oben. „Wir kämpfen um jede wirtschaft­liche Existenz, die durch den Shutdown bedroht ist“, versprach der Arbeitsmin­ister.

 ?? FOTO: CAROLINE SEIDEL/DPA ?? Das Signet der Bundesagen­tur für Arbeit hängt an der Zentrale der Agentur in Nordrhein-Westfalen. Mit einer Flut von Anträgen auf Kurzarbeit­ergeld sehen sich die Arbeitsage­nturen derzeit konfrontie­rt.
FOTO: CAROLINE SEIDEL/DPA Das Signet der Bundesagen­tur für Arbeit hängt an der Zentrale der Agentur in Nordrhein-Westfalen. Mit einer Flut von Anträgen auf Kurzarbeit­ergeld sehen sich die Arbeitsage­nturen derzeit konfrontie­rt.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany