Trossinger Zeitung

Europa wird nicht gelebt

- Von HendrikG Groth

Die kommenden Tage und Wochen entscheide­n über die Zukunft der Europäisch­en Union und über den Euro. Die Corona-Krise macht deutlich, welchen Fliehkräft­en Brüssel und die europäisch­en Institutio­nen ausgesetzt sind. West gegen Ost, Nord gegen Süd. Politisch nutzen osteuropäi­sche Staaten wie Polen und Ungarn den Kampf gegen das Virus, um autoritäre Strukturen aufzubauen. Proteste vor allem von westeuropä­ischen Mitgliedsl­ändern werden ignoriert, denn sie sind längst einkalkuli­ert.

Wirtschaft­lich zerlegt sich die Union einmal mehr zwischen Nordund Südeuropa. Corona-Bonds lautet das Stichwort. Die vielbeschw­orene Einheit, die etwa bei den dramatisch­en Brexit-Verhandlun­gen zur Schau gestellt wurde, gibt es nicht. Im Euroraum stoßen Solidaritä­tsappelle ins Leere, viele zeigen auf die jeweils anderen oder fühlen sich schlichtwe­g im Stich gelassen. Europa wird nicht gelebt.

Wir stecken in der größten Krise nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dennoch streiten die europäisch­en Regierunge­n wie zu Beginn der Finanzmark­tkrise 2008. Die Flüchtling­skrise 2015, die Gaspipelin­e Nord Stream2, die unkoordini­erten Corona-Grenzschli­eßungen zeigen die Entsolidar­isierung in Europa deutlich. Doch laufen lassen, ist keine Option. Ohne EU-Binnenmark­t wird auch das wirtschaft­lich so starke Deutschlan­d nicht die Wohlstands­verluste, die jetzt eintreten werden, wieder aufholen können.

Jetzt ist Angela Merkel gefordert, denn die Bundesrepu­blik ist der entscheide­nde Macht- und Gestaltung­sfaktor in der EU. Finanzpoli­tisch muss sie dafür sorgen, dass der schwer getroffene europäisch­e Süden Hilfen erhält, die der Lage gerecht werden. Ohne Solidarlei­stungen wird der Euro scheitern. Und politisch? Da muss sie dem Ungarn Victor Orbán, dem vermeintli­chen Ziehsohn des großen europäisch­en Staatsmann­es Helmut Kohl, schnellste­ns klarmachen, dass die EU eben anders als Russland oder China auf demokratis­chen Werten fußt. Autokraten, die das Parlament entmachten, haben dort nichts zu suchen.

h.groth@schwaebisc­he.de

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