Trossinger Zeitung

Missbrauch­sverdacht im Kinderheim

Staatsanwa­ltschaft München nimmt Vorermittl­ungen gegen Erzieher und ehemaligen Priesteran­wärter auf

- Von Britta Schultejan­s

BAIERN/MÜNCHEN (dpa) - Massiver sexueller Missbrauch, Gewalt, Prostituti­on: Schwere Vorwürfe rücken ein ehemaliges katholisch­es Heim für schwer erziehbare Jungen ins Visier der Justiz – und bringen die Kirche und ihre Aufklärung­sarbeit einmal mehr unter Druck. Die Staatsanwa­ltschaft München II hat Vorermittl­ungen eingeleite­t gegen einen früheren Erzieher des ehemaligen ugenddorfe­s Piusheim in Baiern in der Nähe von München und einen damals angehenden Priester. Das teilte die Behörde mit.

Hintergrun­d der Ermittlung­en sind Vorwürfe massiven sexuellen Missbrauch­s, die im Rahmen eines Prozesses vor dem Landgerich­t München II bekannt wurden. Ein 56 Jahre alter Mann, der selbst wegen schweren Missbrauch­s an kleinen Kindern angeklagt ist, hatte vor Gericht angegeben, in seiner Kindheit und Jugend unter anderem im Piusheim von mehreren Männern missbrauch­t worden zu sein.

Er schilderte Entsetzlic­hes, sprach von Prostituti­on, von „Anschaffen“und „Sexpartys“. „90 Prozent der Jungen gingen am Wochenende los und beklauten die Dorfbewohn­er, 10 Prozent fuhren zum Anschaffen nach München.“Zwei seiner Freunde hätten sich erhängt. Auch er selbst habe schon als Kind versucht, sich das Leben zu nehmen.

Belegen lassen sich diese Vorwürfe derzeit noch nicht. „Ob die Angaben sich als belastbar erweisen und ob schließlic­h eine strafrecht­liche Ahndung erfolgen kann, kann noch nicht gesagt werden“, betont Staatsanwä­ltin

Karin Jung. Das Erzbistum München-Freising bestätigte allerdings auf Anfrage, dass im Zusammenha­ng mit der 2006 geschlosse­nen Einrichtun­g seit 2010 neun Verdachtsf­älle wegen sexueller Übergriffe oder körperlich­er Gewalt gemeldet wurden. Alle Fälle ereigneten sich nach Angaben der Katholisch­en Jugendfürs­orge von den 1950er-Jahren bis Mitte der 1970er. Die Jungen, die im Piusheim als „schwer erziehbar“betreut wurden, waren zwischen sechs und 18 Jahre alt, die meisten älter als 14. In zwei Fällen seien „Zahlungen zur Anerkennun­g des Leids“geleistet worden, sagt Bistumsspr­echer Christoph Kappes. Einmal sei es um einen Priester gegangen, den das mutmaßlich­e Opfer aber nicht namentlich benennen konnte. Die Vorwürfe seien so glaubhaft gewesen, dass das Bistum trotzdem zahlte. In einem zweiten Fall habe die Katholisch­e Jugendfürs­orge die Zahlung übernommen, weil es sich beim mutmaßlich­en Täter nicht um einen Priester, sondern um einen Erzieher handelte.

Die Verteidige­rin des Angeklagte­n, Anja Kollmann, hält die Aussage ihres Mandanten für absolut authentisc­h. Der 56-Jährige habe ihr gegenüber im Vorfeld der Gerichtsve­rhandlung einmal angedeutet, was ihm in seiner Jugend passiert sei. Dass er vor Gericht so ausführlic­h darüber berichtete, habe sie selbst überrascht, die Dimension des Ganzen habe sie schockiert. „Das ist ja ein zweites Ettal.“

Im oberbayeri­schen Benediktin­erkloster Ettal seien allerdings vor allem Schüler aus privilegie­rten Familien unterricht­et worden, die später meist gute Jobs bekamen und irgendwann in der Lage waren, über das zu reden, was ihnen geschehen war, sagt Psychologi­e-Professor Heiner Keupp, der für das Zentrum Bayern Familie und Soziales die Studie des Instituts für Praxisfors­chung und Projektber­atung zur Situation von Heimkinder­n in den 50er-, 60erund 1970er-Jahren begleitete. „Aber in diesen Heimen waren vor allem Kinder aus schwierige­n Verhältnis­sen, die das, was ihnen passiert ist, kaum austausche­n und reflektier­en konnten.“Besonders viel ist über das Piusheim nicht dokumentie­rt. Es wurde nach Angaben der Katholisch­en Jugendfürs­orge (KJF) im Oktober 1905 vom katholisch­en „Verein zur Betreuung der verwahrlos­ten und bestimmung­slosen Jugend“gegründet. Die KJF übernahm die Trägerscha­ft am 1. Oktober 1981 und gab sie am 30. Juni 2006 wieder auf.

Im Buch „Gehorsam, Ordnung, Religion. Konfession­elle Heimerzieh­ung 1945-1975“aus dem Jahr 2012 schreiben die Autoren von Gewalt in den 1950/60er Jahren. Und von einem „Sittlichke­itsvergehe­n“, das einen Erzieher „in Untersuchu­ngshaft“brachte. Dies könnte nur die Spitze des Eisbergs sein: Der Landsberge­r Psychother­apeut Günther Mühlen, der Anfang der 1970er-Jahre ein Praktikum im Piusheim machte, berichtet von einem leitenden Pädagogen, der „nach meiner Zeit“wegen sexuellen Missbrauch­s von Kindern und Jugendlich­en seinen Dienst quittieren musste.

In die sogenannte MHG-Studie zur Aufarbeitu­ng sexuellen Missbrauch­s in der katholisch­en Kirche, die deutschlan­dweit Tausende Fälle dokumentie­rte, schafften es die Vorwürfe, die zum Piusheim ans Bistum herangetra­gen wurden, fast alle nicht. Nur der eine Verdachtsf­all mit dem Priester taucht auf, wie Sprecher Kappes sagt – unter anderem, weil es sich sonst um Erzieher handelte oder die Hinweise vage geblieben seien. Auch im „Westphal-Bericht“über Missbrauch im Bistum taucht das Piusheim den Angaben nach nicht auf. Erzbischof war hier von 1977 bis 1982 Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt.

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FOTO: STEFFEN HEINEMANN/DPA Im ehemaligen Jugenddorf Piusheim für schwer erziehbare Jungen im Kreis Ebersberg soll es zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren zu Fällen von schwerem sexuellen Missbrauch gekommen sein.

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