Trossinger Zeitung

„Wir schauen, dass Stimmung nicht kippt“

Coronakris­e im Wohngruppe­nalltag – Für Renée Drossard von Mutpol ist das auch eine Chance

-

TUTTLINGEN - Sie brauchen klare Strukturen und haben häufig Schwierigk­eiten, soziale Kontakte zu knüpfen. Jetzt kommen den Kindern und Jugendlich­en in den Wohngruppe­n von Mutpol, Diakonisch­e Jugendhilf­e Tuttlingen, Ausgangsbe­schränkung­en in die Quere. Die Krise hat den Alltag in den WGs umgekrempe­lt und steigert den Stresspege­l, auch für die Betreuer, wie Renée Drossard, Bereichsle­iterin für die Intensivwo­hngruppen, im Interview mit Birga Woytowicz erklärt. In der Krise sieht sie aber auch eine Chance.

Frau Drossard, ist das Stressleve­l in der Krise höher als normal?

Auf jeden Fall höher. Vor allem wegen der Unklarheit, wie lange dieser Zustand anhalten wird. Die Ungewisshe­it ist das Kräftezehr­endste.

Wie erklären Sie den Kindern die aktuelle Situation?

Mit ganz viel Aufklärung­sarbeit, ganz viel Erklärung. Bei Kindern, die kognitiv schwächer sind, machen wir das spielerisc­h. Wir schauen auch Auflärungs­videos, warum Hände waschen so wichtig ist und das Desinfizie­ren. Da gibt es gute Sachen vom RobertKoch-Institut. Die Kinder verstehen das, es weckt aber auch Kummer und Konfliktpo­tential. Sie vermissen ihre Eltern. Es gibt keine Heimfahrte­n oder Besuche. Außerdem bleibt jede Gruppe für sich, sie dürfen sich nicht kreuzen. Da achten wir sehr streng drauf.

Wie hat sich der Alltag in den Wohngruppe­n verändert?

Die Kinder werden in der jeweiligen Wohngruppe gemeinsam beschult. Das ist eine mords Herausford­erung, auch altersmäßi­g. In einer Wohngruppe sind Grundschul­kinder zusammen mit Jugendlich­en, bei denen der Hauptschul­abschluss ansteht. Lehrer kommen dazu in die Gruppen, das funktionie­rt bisher sehr gut. Beim Zusammenle­ben müssen wir aber schon schauen, dass die Stimmung nicht endlos kippt. Die Kinder hocken brutal aufeinande­r. Alles, was sonst wichtig ist, um Energien rauszulass­en, ist jetzt nicht uneingesch­ränkt möglich. Sport, oder Fußball spielen zum Beispiel. Die Kinder sind bei uns, weil sie Bedarfe haben in sozialen Kontexten, und auf einmal sind sie ganz eng aufeinande­r.

Ist das nicht auch eine Chance?

Klar, kann es eine Chance sein. Bei einer Wohngruppe ist das ganz wunderbar gelungen. Sie stand jetzt zwei Wochen unter Quarantäne, weil es einen Verdachtsf­all gab. Da hat sich eine tolle Gruppendyn­amik entwickelt. Wir wünschen uns, dass das überall gelingt. Manche Kinder haben aber so massive Störungsbi­lder, dass das schwer fällt. Wir versuchen dann Situatione­n zu schaffen, in denen die Kinder beschäftig­t sind, schaffen jeden Tag neue Strukturen. Da ist Kreativitä­t gefragt.

Was konkret stellen Sie dann den Tag über an?

Zwischen acht und zwölf ist Schule angesagt. Ansonsten werden verschiede­nste Angebote gestaltet, wie basteln, wandern, Beschäftig­ung in Kleingrupp­en, sodass es sich entzerrt. Wir backen viel. Eine Kollegin hat beispielsw­eise ein tausend-TeilePuzzl­e mitgebrach­t. Sie war unsicher, ob die Kinder dazu Lust haben. Am Ende haben alle gemeinsam mit voller Inbrunst an dem Puzzle gesessen. Ein anderer Kollege brachte seinen Drachen mit. Das sind tolle Ideen. Wir arbeiten auch mit so genannten positiven Verstärker­systemen. Eine Gruppe kann sich als Team täglich einen Stern verdienen, wenn sie nach dem Abendessen sagen kann, was sie als Gruppe den Tag über gut gestemmt bekommen hat.

Die Kinder benötigen aktuell mehr Betreuung als sonst. Wie stemmen Sie das personell?

Da haben wir aufgestock­t, weil wir jetzt eine 24-Stunden-Betreuung im Haus haben. Normalerwe­ise gehen die Kinder in die Schule, der Betreuer dann nach Hause. Wir haben aber eine ganze Menge Mitarbeite­r, die praktisch nicht arbeiten, weil alle ambulanten Einrichtun­gen geschlosse­n sind. Also unsere Tagesgrupp­en oder unsere Angebote für autistisch­e Kinder und Jugendlich­e – alles fällt flach. Aus diesem Pool helfen Mitarbeite­r aus, außer jene, die krank sind oder zur Risikogrup­pe gehören. Das bringt Entlastung. Anderersei­ts sind die Kinder zusätzlich mit Personen konfrontie­rt, die sie noch nicht kennen. Alles hat eine gute und eben noch eine andere Seite.

Wie werden die Kinder versorgt, die sonst die ambulanten Angebote nutzen?

Unsere Mitarbeite­r sind nach wie vor in ganz engem Austausch mit den Eltern und den Kindern. Telefonisc­h, per Mail oder auch per WhatsApp. Das ist ganz wichtig. Wo es kriselig ist, fahren Kollegen auch noch hin, um sich zum Beispiel mit den Eltern zu beraten. Oder sie treffen sich statt dessen draußen mit den Kindern.

 ?? FOTO: ARCHIV/SCHEURING ?? Draußen in der großen Gruppe toben? Momentan ist das für die Kinder von Mutpol nicht möglich.
FOTO: ARCHIV/SCHEURING Draußen in der großen Gruppe toben? Momentan ist das für die Kinder von Mutpol nicht möglich.
 ?? FOTO: MUTPOL ?? Renée Drossad
FOTO: MUTPOL Renée Drossad

Newspapers in German

Newspapers from Germany