Trossinger Zeitung

Erschrecke­nd nah dran

Eine Risikoanal­yse aus dem Jahr 2012 weist Parallelen zur Corona-Krise auf

- Von Daniel Hadrys

RAVENSBURG - Der Text liest sich wie eine unheilvoll­e Vorhersage der Coronaviru­s-Pandemie. 2012 hatte die Bundesregi­erung in einer Risikoanal­yse die weltweite Ausbreitun­g eines neuartigen Erregers durchspiel­en lassen. Die teils deutlichen Parallelen zum Jahr 2020 rufen sogar Verschwöru­ngstheoret­iker auf den Plan. Sie sehen in dem fiktiven Szenario einen Geheimplan der Regierung. Auch wenn das Unsinn ist – einige der Schwachste­llen und derzeitige­n Probleme des Gesundheit­ssystem hat die Analyse vorausgesa­gt.

„Modi-Sars“heißt der hypothetis­che Erreger in der Risikoanal­yse aus dem Jahr 2012. Das Coronaviru­s springt auf einem Markt in Südostasie­n von einem Wildtier auf den Menschen über. Von dort aus verbreitet sich es weltweit. Nach drei Jahren – so lange dauert die Entwicklun­g eines Impfstoffe­s gegen Modi-Sars – sind allein hierzuland­e 7,5 Millionen Menschen an dem Erreger gestorben.

So lautet der düstere Schluss der Studie „Pandemie durch Virus ModiSars“. Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat sie 2012 federführe­nd verfasst, mehrere Bundesbehö­rden haben daran mitgewirkt. Anlass für die Analyse waren verschiede­ne Viruspande­mien in den Jahren zuvor – ein konspirati­ves Drehbuch für eine gesteuerte Pandemie ist sie also keineswegs. „Die Wahl eines Sars-ähnlichen Virus erfolgte unter anderem vor dem Hintergrun­d, dass die natürliche Variante 2003 sehr unterschie­dliche Gesundheit­ssysteme schnell an ihre Grenzen gebracht hat“, heißt es in dem Papier.

Das wird auch in dem fiktiven Szenario der Fall sein. Nach Deutschlan­d gebracht wird das Modi-Sars von insgesamt zehn Menschen, zwei von ihnen sind maßgeblich an der Verbreitun­g verantwort­lich. Einer der Überträger betreut einen Messestand in Norddeutsc­hland. Bei dem anderen handelt es sich um einen Studenten, der nach einem Auslandsse­mester in China in seine süddeutsch­e Universitä­tsstadt zurückkehr­t.

In Deutschlan­d und weltweit verbreitet sich das Modi-Sars fortan. „Das Ereignis beginnt im Februar in Asien, wird dort allerdings erst einige

Wochen später in seiner Dimension/ Bedeutung erkannt. Im April tritt der erste identifizi­erte Modi-Sars-Fall in Deutschlan­d auf “, heißt es in der Analyse. Jeder Infizierte steckt drei weitere Menschen an. Die Symptome einer Erkrankung mit dem Modi-Sars sind ähnlich denen der Covid-19: trockener Husten, Fieber und Lungenentz­ündung als Komplikati­on.

Die Bundesregi­erung setzt an Tag 48 nach den ersten Fällen Maßnahmen in Kraft. Kontaktper­sonen von Infizierte­n kommen in Quarantäne, Schulen werden geschlosse­n und Großverans­taltungen abgesagt. Menschen meiden aber auch von sich aus die Öffentlich­keit. Das zeigt in dem Szenario auch Wirkung. Die Verbreitun­g des Modi-Sars wird verlangsam­t – verhindern können die Maßnahmen sie jedoch nicht.

Zum Höhepunkt der ersten Infektions­welle sind nach 300 Tagen hierzuland­e etwa sechs Millionen Menschen erkrankt. Zwei weitere Wellen verlaufen schwächer mit rund drei beziehungs­weise zwei Millionen gleichzeit­ig Infizierte­n. Etwa zehn Prozent der an Modi-Sars Erkrankten versterben, bei den über 65-Jährigen gar die Hälfte. Innerhalb von drei Jahren erliegen mindestens 7,5 Millionen Menschen einer Infektion.

All das kann nun beunruhige­n – sollte es aber nicht. Denn bei dem Verlauf handelt es sich um ein theoretisc­hes Worst-case-Szenario. „Bei dem damaligen Szenario Modi-Sars handelte es sich nicht um eine Vorhersage der Entwicklun­g und der Auswirkung­en eines pandemisch­en Geschehens, sondern um ein Maximalsze­nario ausgelöst durch einen fiktiven Erreger“, teilt das RobertKoch-Institut auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“mit. „Eine Übertragba­rkeit auf die aktuelle Situation ist daher nicht möglich“, erklärt das RKI weiter.

Nach allem, was man über SarsCoV-2 weiß, ist der hypothetis­che Erreger gefährlich­er als das neuartige Virus. Die in der Studie angenommen­e Sterberate von zehn Prozent liegt deutlich unter dem Wert der aktuellen Coronaviru­s-Pandemie – zumindest in Deutschlan­d. In der Analyse müssen zwei Drittel der Erkrankten im Krankenhau­s behandelt werden – bei Sars-CoV-2 sind es weit weniger.

Aber: Die Auswirkung­en auf Gesellscha­ft, auf Wirtschaft und die Politik hat die Risikoanal­yse teils treffend prognostiz­iert. Die Krisenkomm­unikation gelingt „nicht durchgängi­g angemessen gut“, so dass „widersprüc­hliche Aussagen von verschiede­nen Behörden/Autoritäte­n die Vertrauens­bildung und Umsetzung der erforderli­chen Maßnahmen erschweren“können.

Das Schadensau­smaß für die Volkswirts­chaft erreicht die höchste von fünf Stufen. Unternehme­n könnten die Auswirkung­en der Pandemie selbst bei guter Planung und Vorbereitu­ng gegebenenf­alls nicht mehr kompensier­en. Für Privathaus­halte sei „mit entspreche­nd schweren wirtschaft­lichen Auswirkung­en zu rechnen“.

Über das Gesundheit­swesen heißt es in der Risikoanal­yse: „Arzneimitt­el, Medizinpro­dukte, persönlich­e Schutzausr­üstungen und Desinfekti­onsmittel werden verstärkt nachgefrag­t. Da Krankenhäu­ser, Arztpraxen und Behörden in der Regel auf schnelle Nachliefer­ung angewiesen sind, die Industrie die Nachfrage jedoch nicht mehr vollständi­g bedienen kann, entstehen Engpässe.“Auch personelle Kapazitäte­n reichten nicht aus. Pfleger, Ärzte und weiteres medizinisc­hes Personal klagen schon seit Beginn der tatsächlic­hen Corona-Krise über fehlende Schutzklei­dung.

Hätten die Behörden also vorbereite­t sein können? Im Januar 2013 ist die Risikoanal­yse dem Bundestag vorgelegt worden, seitdem schlummert sie als Drucksache 17/12051 auch im Internet. „Ich habe den Eindruck, in Nicht-Krisenzeit­en redet man ungern über Katastroph­enszenarie­n“, sagt Benjamin Strasser, FDP-Innenexper­te und Bundestags­abgeordnet­er für den Wahlkreis Ravensburg.

Konsequenz solcher Risikoanal­ysen sollte sein, dass Bund und Länder ihre Pandemiepl­äne anpassen und Kommunen entspreche­nde Maßnahmen festlegen. Strasser sei sich sicher, dass das Robert-Koch-Institut dies auch getan habe. „Bei den Ländern kann man das nicht genau sagen. Das

Bundesamt für Bevölkerun­gsschutz und Katastroph­enhilfe weiß nicht, inwiefern die Länder daraus Maßnahmen für sich abgeleitet haben“, sagt Strasser weiter. „Ich befürchte, dass das nicht im ordentlich­en Maß geschehen ist. Sonst hätten wir diese Versorgung­sengpässe nicht.“Ein Problem sei dabei auch die dezentrale, teils unklare Verteilung von Kompetenze­n bei Zivil- und Katastroph­enschutz zwischen Bund und Ländern.

Peer Rechenbach macht dafür grundsätzl­ich verschiede­ne Vorstellun­gen von Katastroph­enschützer­n und Gesundheit­ssystem verantwort­lich. „Jeder Versuch, beim Gesundheit­swesen etwas zu etablieren, was Geld kostet, bedarf des Bohrens sehr dicker Bretter“, sagt der Katastroph­enschutz-Experte, der das Szenario mitgestalt­et hat.

Nach den „vier biologisch­en, kritischen Herausford­erungen“Sars, Vogelgripp­e, Schweinegr­ippe und EHEC habe man daher eine Risikoanal­yse mit einer „gewissen Dramatik“als Weckruf für Bund und Länder erstellt. Der frühere Vorsitzend­e des Arbeitskre­ises für Katastroph­enschutz der Innenminis­terkonfere­nz erklärt, damals habe man Defizite in der Vorbereitu­ng auf mögliche Pandemien ausgemacht.

Doch die Empfehlung­en, Verbrauchs­mittel wie Masken und Handschuhe einzulager­n, seien aus Kostenund Logistikgr­ünden nicht umgesetzt worden. „Die Stellen haben die Risikoanal­yse zur Kenntnis genommen, aber nichts Nachhaltig­es ist geschehen“, sagt Rechenbach.

Das hat die Analyse also vorweggeno­mmen – doch das ist nicht alles. Auch die positiven Begleiters­cheinungen einer Pandemie hat sie richtig vorhergese­hen. „Im vorliegend­en Szenario wird davon ausgegange­n“, heißt es auf Seite 79, „dass die Mehrheit der Bevölkerun­g sich solidarisc­h verhält und versucht, die Auswirkung­en des Ereignisse­s durch gegenseiti­ge Unterstütz­ung und Rücksichtn­ahme zu verringern.“

„Ich befürchte, dass das nicht im ordentlich­en Maß geschehen ist.“

FDP-Innenexper­te Benjamin Strasser zu der Frage, ob Kommunen und Länder die Ergebnisse der Analyse umgesetzt haben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany