Wenn ein Schutz zum Bumerang wird
Weshalb in der Gastronomie eine Kündigungswelle von Azubis droht – und wie diese verhindert werden könnte
RAVENSBURG - Die Aussicht ist unschlagbar. Vom Höchsten aus überblickt man den ganzen Bodensee bis hin zu den Alpengipfeln. Normalerweise ist im Biergarten des Berggasthofes auf der Anhöhe im Bodenseehinterland an den ersten warmen Frühlingstagen jeder Platz besetzt – an Ostern stehen die Ausflügler Schlange. Mehr als 1000 Essen hat Hans-Peter Kleemann in den vergangenen Jahren immer an den Osterfeiertagen verkauft. „Ich darf gar nicht dran denken“, sagt der Wirt des Berggasthofes. Denn in diesem Jahr ist alles anders. Aufgrund der CoronaPandemie haben alle Restaurants im Land seit dem 21. März geschlossen. Statt sich auf einen guten Saisonstart vorzubereiten, zwingen die aktuellen Einschränkungen Kleemann zu vielen strategischen Entscheidungen und bürokratischen Arbeiten. Für die meisten seiner knapp 80 Mitarbeiter – davon 45 Festangestellte – hat er Kurzarbeit angemeldet.
Doch was passiert mit den sieben Auszubildenden im Betrieb? Sie sind aktuell von der Politik vor Kurzarbeit geschützt, ausbildende Betriebe müssen ihnen per Gesetz auch ohne Arbeit für sechs Wochen die volle Ausbildungsvergütung weiterzahlen. Damit soll verhindert werden, dass die bereits niedrige Ausbildungsvergütung ebenfalls auf 60 Prozent sinkt und die Lehrlinge in Bedrängnis kommen. „Auszubildende trifft die Kurzarbeit besonders: Sie verdienen unter Mindestlohn, eine Kürzung auf 60 Prozent ist hier existenzbedrohend“, sagte der Ausbildungsexperte des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Matthias Anbuhl, kürzlich in einem Interview.
Dieser gut gedachte Schutz könnte sich nun allerdings als Bumerang erweisen. Notleidende Betriebe sehen sich offenbar gezwungen, zuerst den für sie nun verhältnismäßig teuren Lehrlingen zu kündigen. Insbesondere im Hotel- und Gastgewerbe, wo die Einnahmen nahezu auf Null zurückgegangen sind, rechnet der Baden-Württembergische Industrieund Handelskammertag (BWIHK) mit einer Kündigungswelle von Azubis. „Wir sind gleich doppelt gebeutelt, denn unsere Häuser sind geschlossen. Wir haben zurzeit keinerlei Einnahmen. Und wenn irgendwann die Corona-Pandemie vorbei ist, und wir wieder öffnen dürfen, dann fehlen uns die Auszubildenden“, wird Heike Gehrung-Kauderer, Branchenvertreterin im Präsidium der IHK Region Stuttgart, in einer Mitteilung des BWIHK zitiert.
Mit rund 1700 Ausbildungsbetriebe und 6000 Azubis ist das Hotelund Gastgewerbe nach wie vor eine der größten Ausbildungsbranchen im Land. Betroffen sind Lehrlinge aller Berufe, die sich etwa zum Koch, zur Hotelfachfrau, Restaurantfachmann, Hotelkauffrau, Fachmann für Systemgastronomie oder zur Fachkraft im Gastgewerbe ausbilden lassen.
„Aus Sicht des Dehoga BadenWürttemberg treffen die Befürchtungen des BWIHK leider zu“, sagt Daniel Ohl, Pressesprecher des Hotelund Gaststättenverbands in
Stuttgart, im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. „Dass viele Betriebe unserer Branche derzeit akut in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind, betrifft auch etliche der rund 6000 Auszubildenden.“Die Not der Betriebe zeige sich allein daran, dass laut Umfrage des Dehoga Baden-Württemberg bereits mehr als 80 Prozent der Mitglieder Kurzarbeit angemeldet haben.
Ohl betont jedoch, dass er keinen Gastronom oder Hotelier kenne, der freiwillig einen Azubi kündige, um jetzt Geld zu sparen – im Gegenteil: „Unsere Branche braucht jede Hand. Da wird jeder Unternehmer alles tun, um jeden Mitarbeiter weiter beschäftigen zu können.“Zu einer Kündigung komme es erst, wenn ein Betrieb keine andere Möglichkeit mehr sieht. „Aber die Krise trifft unsere Branche so brutal, dass dieser Punkt recht schnell erreicht ist.“
Auch Hans-Peter Kleemann weiß nicht, wie lange er durchhalten kann. „Die Rücklagen sind nach dem Winter, in dem die Gewinne immer kleiner sind, nicht mehr so groß.“Dass er seine Auszubildenden deshalb entlässt, kommt für den Wirt aber nicht in Frage. „Das ist auch eine moralische Frage: Der Nachwuchs ist so wichtig für uns. Eine Entlassung der Azubis wäre sehr kurzfristig gedacht.“Kleemann nutzt die Zeit ohne Betrieb deshalb auch, um seinen sieben Lehrlingen Einblicke in andere Bereiche des Hotel- und Gaststättenbetriebs zu geben, als in die von ihnen ausgewählten Ausbildungsbereiche. Am Donnerstag war er mit ihnen beim Spargelstechen. Eine Mitarbeiterin kümmert sich zudem hausintern um Schulungen für die Nachwuchskräfte.
Doch viele kleinere Betriebe können sich so etwas nicht leisten. Um
Kündigungen zu verhindern, fordern BWIHK und Dehoga – wie zuvor auch schon andere Branchen wie das Handwerk – daher Kurzarbeitergeld auch für Azubis. „Sollte dies kurzfristig nicht möglich sein, ist die ,Thüringer Lösung’ eines staatlichen Ausbildungszuschusses sicher ein guter Weg“, sagt Dehoga-Sprecher Ohl und spricht eine neue Regelung aus dem Freistaat an. In Thüringen hat das Wirtschaftsministerium Anfang der Woche kurzfristig einen „Ausbildungszuschuss“aufgelegt, über den Betriebe 80 Prozent der Ausbildungsvergütung zurückbekommen können, die sie an die Lehrlinge in ihrem Unternehmen nach behördlich angeordneter Schließung gezahlt haben. Diese Hilfe ist beschränkt auf den Zeitraum jener sechs Wochen, bis die Kurzarbeiterregelung der Bundesagentur für Arbeit greift. Dies sei eine annehmbare Lösung, meint Ohl, „aber gegenüber der direkten Gewährung von Kurzarbeitergeld eben ein Umweg“.
Auch in der Politik mehren sich die Stimmen, die Forderung des Gastgewerbes zu unterstützen. „Wir können es uns nicht leisten, dass eine ganze Generation von Nachwuchskräften durch die Corona-Krise ihre Lebensperspektive verliert“, sagte etwa der Fraktionsvorsitzende der FDP im Stuttgarter Landtag, HansUlrich Rülke, dem SWR. Diese Branche sei für Baden-Württemberg als Tourismusland wichtig, und jeder kenne die berechtigten Klagen über den Fachkräftemangel. Rülke forderte eine sofortige Lösung für das Problem.
Sollte diese nicht kommen, sehen der BWIHK und der Dehoga weitreichende, verheerende Folgen für das Hotel- und Gastgewerbe. „Wenn den Betrieben in der aktuellen Lage nichts anderes übrig bleibt, als Ausbildungsverhältnisse zu beenden, werden sie auch im Herbst keine neuen Ausbildungsverträge schließen können“, sagt BWIHK-Präsidumsmitglied Gehrung-Kauderer. Dehoga-Sprecher Ohl sieht sogar noch schwärzer, sollte es kein generelles Rettungspaket vom Staat für die gebeutelte Branche geben: „Die Frage ist nicht, ob es uns ab Herbst an Auszubildenden fehlt, sondern wie viele Betriebe es dann überhaupt noch gibt.“