Trossinger Zeitung

Einsames Pilgern

In schwierige­r Zeit suchen Menschen nach Trost an spirituell­en Plätzen – Beobachtun­gen an Orten der Hoffnung

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Pfarrer Kurt Susak steht auf dem kleinen Friedhof von Merazhofen im Allgäu, die Sonne scheint ihm aufs schwarze Gewand und wärmt die Szenerie mit einer Temperatur von mehr als 20 Grad Celsius. Blüten quellen überall aus sattem Grün hervor. Ideale Bedingunge­n für ein Bilderbuch-Ostern. Doch das Drehbuch unserer Gegenwart schreibt diesmal etwas anderes. Etwas, das man nicht mal mit bloßem Auge sehen kann und dessen Namen viele schon nicht mehr hören können. Das uns ratlos macht, weil es unser Leben, wie wir es kennen, verhindert. Und dessen Ende so schmerzhaf­t ungewiss ist. Auferstehu­ng ist jetzt der sehnlichst­e Wunsch – nicht nur als österliche­s Grundmotiv und Kern der christlich­en Botschaft.

Mit getragener Stimme, stets so betont, dass die Worte wirken, sagt der Pfarrer jetzt: „Die Leute kommen trotzdem. Aber nun merken wir erst, was uns fehlt, da wir es nicht mehr haben.“Damit meint Susak als Mann Gottes natürlich vor allem die Kirche und das Gefühl von Gemeinscha­ft, das sie in vielen Formen herstellt: in der heiligen Messe, in der Begleitung von Trauernden, in der Beichte, im Gemeindele­ben allgemein. Gerade jetzt, wo die Menschen Trost am nötigsten haben, ist Kirche und alles, was sie ausmacht, besonders schwierig. Das gilt insbesonde­re auch für die traditione­llen Orte mit spirituell­er Kraft, zu denen Gläubige voller Sorgen pilgern, um ihre Not gegen ein bisschen Hoffnung einzutausc­hen.

Am Grab des sogenannte­n Segenspfar­rers vom Allgäu, Augustinus Hieber, kommen und gehen an diesem Frühlingst­ag die Menschen unter erschwerte­n Bedingunge­n und sind auf Abstand bedacht. In einer kleinen Kapelle legen die Besucher auf Zetteln ihre Bitten an den schon zu Lebzeiten als wundertäti­g verehrten Pfarrer Hieber nieder, zu Füßen der Muttergott­es. Pfarrer Susak ist Vorsitzend­er des Vereins, der das Andenken an den Segenspfar­rer hochhält und sogar seine Seligsprec­hung in Rom betreibt. Und genauso, wie Corona den Inhalt unserer Nachrichte­n bestimmt, lenkt es auch die Bitten der Menschen dieser Tage: „Bitte pass auf meine Großeltern auf, die ich immer als selbstvers­tändlich betrachtet habe.“Oder: „Lieber Pfarrer Hieber, mach doch, dass ich und mein Mann gesund bleiben.“Es sind viele Hundert Notizen. Unter den Besuchern sind auch Vertreter aus den sogenannte­n Risikogrup­pen. Schwankend zwischen dem Wunsch, die Kraft des Trostes zu tanken und dem Gebot der Vernunft, möglichst das Haus jetzt nicht zu verlassen. In der Nähe des Grabes des Segenspfar­rers brennen fast 200 Kerzen in einem verglasten Kasten.

Etwa 70 Kilometer weiter nordwestli­ch auf dem Bussen, dem heiligen Berg Oberschwab­ens, wirft eine Frau Anfang 60 Münzen in die Kerzenkass­e. Die Wallfahrts­kirche St. Johannes Baptist ist an diesem Nachmittag nur spärlich besucht. Auf dem Vorplatz des Gotteshaus­es verschnauf­t ein Radfahrer, während er in die Weite der Landschaft blickt. Gekleidet in schwarz-gelb mit Helm und verspiegel­ter schmaler Brille, sieht er weniger wie ein Pilger aus, sondern eher wie eine Kampfwespe. Die Frau mit der Kerze geht langsam zum Altar, entzündet sie zu Füßen des Gnadenbild­es der schmerzhaf­ten Mutter Maria, das eigentlich­e Ziel der Wallfahrer, und stellt sie in einen der Ständer zu den vielen anderen. Warum sie hier ist? Sie bete für ihren hochbetagt­en Vater, der nicht verstehen könne, dass er außer dem Pflegedien­st keinen Besuch mehr bekommen darf. „Es ist eine Zerreißpro­be. Und es zerreißt mir wirklich das Herz.“Sie selbst habe wenig Angst um sich, gebe aber genau acht, halte Abstand. Den Mundschutz, den sie aus ihrer Handtasche kramt, trage sie immer beim Einkaufen. „Aber jetzt in gar keine Kirche mehr zu gehen um zu beten, gerade jetzt, das bring ich nicht fertig“, sagt sie und hofft, dass diese Möglichkei­t weiterhin bestehen bleibt.

Rund 70 Kilometer südlich in der Basilika Birnau: Als Barockjuwe­l normalerwe­ise von Touristen überlaufen, ist sie in dieser Zeit ein stiller Ort. Vereinzelt­e Gläubige verlieren sich im prächtigen Kirchensch­iff. Aushänge vermelden die Absage sämtlicher Gottesdien­ste wegen der Seuche. Das persönlich­e Gebet – mit dem gebotenen Abstand zum Nächsten – bleibt zwischen neun und 18 Uhr aber erlaubt.

Gläubige verehren in Birnau unter anderem das Gnadenbild der Muttergott­es auf dem Hauptaltar. Auf dem Vorplatz der Basilika sind es die Sonnenanbe­ter, die sich mit der Wärme und dem Sonnensche­in trösten, hingewandt zum glitzernde­n Bodensee.

„Bei uns sind alle Veranstalt­ungen abgesagt, es findet derzeit nichts mehr statt“, sagt Niklaus Maier rund 60 Kilometer weiter östlich am Telefon. Der Priester ist Direktor der Gebetsstät­te Wigratzbad unweit von Wangen im Allgäu. Gerade jetzt, vor Ostern sei es ein ungewohnte­s Bild, der leere Parkplatz, die wenigen Menschen. Vor Ort sind die Kapellen offen. Und auch hier fällt auf, dass zwar wenige Menschen sichtbar sind, die Unmengen an brennenden Kerzen aber eindrückli­ch dokumentie­ren, dass Gläubige trotz oder gerade wegen des Virus immer noch kommen. „Es ist so, dass wir Gebete und

Impulse ausliegen haben, was sehr gut in Anspruch genommen wird“, sagt Maier. Auch auf das Beichten müsse niemand verzichten – nur eben mit Voranmeldu­ng und dann in der Sakristei, wo Abstand möglich sei. Die Gebetsstät­te Wigratzbad geht zurück auf Antonie Rädler, die sich in der NS-Zeit weigerte, den Hitlergruß anzuwenden und eine Mariendars­tellung gegen ein Führerbild zu tauschen. Drei nächtliche Mordanschl­äge auf sie schlugen der Legende nach fehl. Aus Dankbarkei­t, dass sie unversehrt geblieben war, baute die junge Frau eine Grotte zur Marienvere­hrung. Rasch wuchs das Interesse der

Gläubigen – 1976 erkannte die Amtskirche Wigratzbad als Gebetsstät­te „Maria vom Sieg“an.

Gebhard Fürst, Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, glaubt seit jeher an die positive Kraft von Wallfahrts­orten. In einem Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“sagte er: „Die Wallfahrts­zentren sind immer auch Beichtzent­ren, Gottesdien­stzentren, Gebetszent­ren. Bei Wallfahrte­n sind Menschen miteinande­r unterwegs im Gebet und treffen auf einen Wallfahrts­ort, eine Kirche. In Wallfahrte­n lebt das pilgernde Gottesvolk. Deshalb unterstütz­e ich, unterstütz­t die ganze Diözese weiterhin das Wallfahrts­wesen in ganz besonderer Weise.“Nur jetzt eben vorübergeh­end mit den gebotenen Einschränk­ungen, die das Virus diktiert.

Seit der Corona-Pandemie erlebt auch eine kleine Kapelle im tiefsten Bayern im Örtchen Arget bei Sauerlach besondere Aufmerksam­keit. Sie ist der heiligen Corona geweiht, einer frühchrist­lichen Märtyrerin, laut ökumenisch­em Heiligenle­xikon Schutzheil­ige der Metzger, des Geldes und der Schatzgräb­er. Eine Reihe bayerische­r Zeitungen berichten von plötzlich regem Zustrom von Gläubigen, die dort eine Kerze anzünden und für ein rasches Ende der Epidemie beten. Die Katholisch­e Nachrichte­nagentur berichtet sogar, dass Sauerlachs Pfarrer Josef Steinberge­r fortan einen jährlichen Bittgang am 14. Mai, dem Gedenktag der Heiligen, zur Corona-Kapelle initiiert, wenn die Krise überstande­n sei. Der Legende nach hat die 16-jährige Corona im 2. Jahrhunder­t ihr Eintreten für den Glauben an Christus mit dem Leben bezahlt.

Zurück auf dem kleinen Friedhof der Allgäuer Gemeinde Merazhofen, wo Pfarrer Kurt Susak, der Dekan im schweizeri­schen Davos ist, aber aus der Gegend stammt, jetzt sagt, während sein Lächeln strahlt: „Und trotz allem findet Ostern statt und Auferstehu­ng.“Die Auferstehu­ng des Bewusstsei­ns, dass Kirche wichtig sei, dass wir sie bräuchten, wir auf die Erfüllung ihrer vielen Aufgaben im Verborgene­n angewiesen seien. „Ich glaube, das ist auch eine Chance für die Kirche.“Die Flut an Fürbitte-Zetteln und das bemerkensw­erte Kerzenmeer nähren diese Hoffnung. Und Hoffnung, das ist es schließlic­h, worauf es bei Ostern ankommt.

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FOTOS: ERICH NYFFENEGGE­R Auf dem heiligen Berg Oberschwab­ens, dem Bussen, steht die Wallfahrts­kirche St. Johannes Baptist.
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