Trossinger Zeitung

„Keine Möglichkei­t, Abstand einzuhalte­n“

Gabriele Lenz ist blind und leitet eine Selbsthilf­egruppe – wie Betroffene die Krise erleben

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TUTTLINGEN - Zwei Meter Abstand halten, nach Augenmaß. Aber was, wenn man sich nur mit anderen Sinnen orientiere­n kann? Gabriele Lenz ist blind und leitet die Selbsthilf­egruppe für blinde Menschen im Landkreis Tuttlingen. Seit drei Wochen hat sie keinen Schritt mehr vor ihre Haustür gesetzt. Warum sie die Coronakris­e persönlich besonders hart trifft und wie sie und andere Betroffene aktuell damit umgehen, erzählt Lenz im Interview mit Volontärin Birga Woytowicz.

Frau Lenz, warum gehen Sie im Moment gar nicht aus dem Haus?

Ich sehe einfach keine Möglichkei­t, den Abstand einzuhalte­n. Wenn ich mit einem Langstock unterwegs bin, stoße ich damit jemandem zwischen die Füße, und schon ist der Abstand nicht mehr eingehalte­n. Es gibt Videostöck­e, die piepen immer schneller, je näher man einem Hindernis kommt. Aber ob das die anderen merken? Manchmal sind andere blinder als man selbst. Ich habe einen Blindenhun­d. Aber auch dem kann ich nicht sagen: Geh mal mit zwei Metern Abstand. Zuhause bin ich immer auf der sicheren Seite. Zumal ich auch zur Hochrisiko­gruppe gehöre. Ich bin Transplant­ationspati­entin, habe eine fremde Niere und Bauchspeic­heldrüse.

Wie verbringen Sie die Zeit daheim?

Das mit dem nicht rausgehen, ist aber nicht so tragisch bei mir. Wir haben einen Garten. Außerdem haben mein Mann und ich ein Tonstudio. Jetzt können wir wieder ein bisschen mehr üben. Da gehen einige Stunden bei drauf. Mir persönlich wird nicht langweilig. Anderen, die all das nicht haben, aber schon.

Was hören Sie von anderen Betroffene­n aus der Selbsthilf­egruppe?

Mir ist langweilig, eigentlich will ich raus: Das sagen die meisten aus unserer Gruppe. Normalerwe­ise treffen wir uns einmal im Monat, jetzt telefonier­en wir fast täglich. Die meisten sind schon alt und können ohnehin nur mit Begleitung aus dem Haus. Bei einer kommen jetzt öfter die Töchter aus dem Schwarzwal­d, um eine Runde spazieren zu gehen. Sie fährt sonst aber mit dem Taxi zur Physiother­apie, was ich irgendwie ein bisschen gefährlich finde. Durch die Behandlung­sräume muss man immer geführt werden, außerdem fasst man ständig an Türrahmen. Und im Taxi geht Abstand einhalten auch nicht. Aber ihr bleibt anderersei­ts nichts anderes übrig.

Was ist mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln?

Bus und Bahn gehen gar nicht. Man muss die Sitze immer abtasten, um zu schauen, welche leer sind. Da hat man erst recht Kontakt. Manchmal fasst man anderen Leuten dabei aus Versehen auf die Nase oder Wange. Aktuell sind viele auch eher anonym unterwegs, reden kaum. Die Geräuschku­lisse allgemein fährt zurück, es sind weniger Autos unterwegs.

Inwiefern verändert das die Orientieru­ngspunkte für blinde Menschen?

Eigentlich ist das toll, wenn nicht so viel Betrieb ist. Da ist die Straße meistens leer, sodass man sie problemlos überqueren kann. Aber dadurch, dass einige Läden zu sind, fehlen Orientieru­ngspunkte. Der Jeansshop zum Beispiel,

den man sonst am Geruch erkannt hat. Das bricht jetzt weg.

Viele Menschen zeigen Solidaritä­t, spontan sind viele Hilfsaktio­nen entstanden. Kommt diese Hilfe auch bei blinden Menschen an?

Die meisten haben zum Glück noch Verwandtsc­haft, die sich kümmern. Eine aus der Gruppe lebt in einer betreuten Wohnung. Sie bekam einen Brief. Sie solle sich melden, dann käme das Rote Kreuz, um zu helfen. Dass die das auch noch machen, finde ich richtig toll. Die haben sonst ja schon genug am Hals. Ich habe zum Glück meinen Mann, der einkauft und mit dem Hund raus geht.

Wenn sich alles wieder beruhigt hat: Was werden Sie als erstes tun, wenn Sie Ihr Haus verlassen?

Für mich persönlich werde ich die Ausgangssp­erre noch eine ganze Weile lassen, weil ich Hochrisiko­patientin bin. Ich möchte warten, bis es einen Impfstoff gibt.

Und was werden Sie tun, wenn es soweit ist?

Mit meinem Mann als Gesangsduo auftreten und wieder ins Seniorenhe­im gehen. Gerade sind alle Termine weggebroch­en. Für mich ist das Singen neben dem Haushalt wie ein Zweitjob, sage ich immer. Das möchte ich nicht aufgeben. Wir nehmen dann auch kein Geld, singen nur aus Spaß an der Freude für die Leute. Wir wollen jetzt auch eine CD aufnehmen, die wir später an alle Helfer verteilen, um danke zu sagen.

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FOTO: ARCHIV/ZERM, ERIC Nach der Krise wird Gabriele Lenz wieder auftreten.

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