Trotz Corona: Telemedizin ist selten eine Alternative
Bei hoher Ansteckungsgefahr könnte das Abklären gesundheitlicher Probleme über Telefon und Chat Ärzte entlasten
TUTTLINGEN - Die medizinische Versorgung durch Hausärzte ist im Landkreis Tuttlingen ein Problem. Laut Kassenärztlicher Vereinigung (KV) sind bereits 20 Stellen nicht besetzt. Tendenz steigend. Abhilfe soll unter anderem die Telemedizin schaffen. Dies wird von den Bürgern aber bisher kaum genutzt. Die Landkreisverwaltung glaubt, dass die CoronaKrise einen Schub geben könnte.
„Mit der Telearbeit, dem HomeOffice, Video- oder Telefonkonferenzen hat es auch in der Wirtschaft durch die Kontaktverbote und Einschränkungen eine sehr dynamische Entwicklung gegeben, die man sich vor Monaten noch nicht hätte vorstellen können“, sagte Bernd Mager, Dezernent für Soziales und Arbeit beim Landkreis Tuttlingen.
Die Telemedizin habe den großen Vorteil, dass Untersuchungen und die Versorgung mit Medikamenten sehr viel schneller und effizienter vonstatten gehen kann, sagt er. „Gerade in Zeiten von hoher Ansteckungsgefahr und häuslicher Quarantäne ist die Telemedizin für alle Beteiligten eine Erleichterung. Für Patient und Arzt“, sagt Mager. Die Gefahr, sich und andere im Wartezimmer anzustecken, würde durch die Telemedizin entfallen.
Gerade für ältere Menschen sei es derzeit sinnvoll, so wenig Kontakt zu fremden Menschen zu haben, wie möglich. Die Ausbreitung des Coronavirus zeige, wieviel Potenzial in der Telemedizin stecke. Mager erhofft sich, dass der Gesetzgeber „einige Hürden bei der Telemedizin einreißt“. Andere Länder, wie die Schweiz oder in Skandinavien, seien weiter. „Bei uns ist noch Luft nach oben“, sagt der Sozialdezernent. Er betont, dass die Telemedizin einen Arzt nie ersetzen, wohl aber entlasten kann. Und dies wird in Zukunft immer wichtiger.
In den nächsten Jahren wird die Lücke in der Hausarztversorgung wahrscheinlich noch weiter aufreißen. Die KV rechnet damit, dass noch mehr Mediziner ihre Praxis aus Altersgründen aufgeben müssen. Dagegen will der Landkreis – obwohl die Kassenärztliche Vereinigung den Auftrag zur Sicherstellung der hausärztlichen
Versorgung hat – etwas tun. Zusätzlich zur Finanzierung von Fortbildung für Ärzte und der Unterstützung der Initiative DonauDocs wurde eine Stelle im Weiterbildungsverbund Tuttlingen eingerichtet. Claudia Barenz kümmert sich seit Anfang Januar darum, Ärzte, die sich am Klinikum Tuttlingen ausbilden lassen, für eine Niederlassung als Hausarzt zu gewinnen.
Auch wenn die Erwartungen an diese Stelle hoch sind, verfolgt die Landkreis-Verwaltung mit der Telemedizin einen weiteren Ansatz. Der Landkreis Tuttlingen ist seit Mitte April 2018 zusammen mit der Landeshauptstadt Stuttgart Modellregion. Ergänzend zur Behandlung per Telefon oder Video kann seit November 2019 auch ein Rezept elektronisch ohne vorherigen Kontakt zwischen Arzt und Patient ausgestellt werden.
Dies war bisher allerdings Zukunftsmusik. Die bisherigen Nutzerzahlen zeigen, dass sich noch nicht allzuviele Bürger auf die Telemedizin eingelassen haben. Bisher sind 7000 Nutzer bei DocDirect, das mittlerweile im ganzen Land möglich ist, angemeldet. „Die Zahlen sind überschaubar“, sagt auch Bernd Mager Vier medizinische Fachangestellte an der Servicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung des Landes sowie 44 niedergelassene Vertragsärzte in den Online-Sprechstunden stehen bereit, um Menschen zu beraten, bevor sie noch zu einem Arzt in die Praxis gehen.
„Das ist ein hochinnovativer Ansatz. Die Leute müssen es nur annehmen. Die Telemedizin wird den Arzt nie ersetzen, aber der Besuch der Praxen lässt sich reduzieren“, sagte Mager vor einigen Wochen in einer Ausschusssitzung des Landkreises. Saisonal abhängig habe die Online-Sprechstunde bisher bei Erkrankungen wie Erkältungen und grippalen Infekten, Magen- und Darmerkrankungen, Allergien und Ausschlägen, Herz-Kreislauferkrankungen und Rückenschmerzen erfolgreich helfen können. „Die Telemedizin ist eine gute Ergänzung“, meinte Bernhard Schnee (CDU) bei dem Treffen des Gremiums. Er wunderte sich nur über die geringen Teilnehmerzahlen an dem Projekt.
Die Telemedizin sei ein Projekt der Kassenärztlichen Vereinigung, erklärte Landrat Stefan Bär damals. Es werde im Landkreis Tuttlingen nur ausprobiert. Man werde nach Absprache mit der KV über die Gemeindeblätter auf die Möglichkeit hinweisen, sagte Mager. Es sei aber der Wunsch gewesen, so Bär, dass man DocDirect „behutsam startet, um die Infrastruktur zu testen. Wenn diese aufgebaut ist, wollte die KV informieren.“Hermann Polzer (OGL) war zuversichtlich, dass das Projekt noch an Fahrt aufnehmen werde. „Die Ärzte arbeiten jetzt schon am Anschlag. Wenn noch mehr nicht mehr möglich ist, wird die Telemedizin zunehmen. Wir werden das auch noch erleben.“
Peter Stresing (AfD) erkannte den Bedarf der Telemedizin in einem „weitläufigen Landkreis. Wo sind denn noch die Ärzte und Apotheken“, fragte er. Bedenken hatte er aber, ob ältere, immobile Bürger, die „nicht so technikaffin“sind, auch wegen das Datenschutzes die Möglichkeit der Telemedizin nutzen würden. Dem entgegnete Bär, dass dies keine Frage des Alters, sondern eher der Einstellung sei. Man könne aber niemand zu seinem Glück zwingen. „Wer sich in ein Wartezimmer setzen möchte, soll es tun.“
Seit November 2019 können Nutzer von DocDirect auch ein elektronisches Rezept erhalten. Der Arzt legt das Rezept auf einem Server ab, das so von dem Patienten in einer App angesehen und auch von beteiligten Apothekern genutzt werden kann. Für die Apotheken, die den Menschen die Medikamente nach Hause bringen, bedeutet die elektronische Übermittlung für die spätere Weiterleitung auch weniger Arbeit. Die Ausstellung von Betäubungsmittelrezepten (Morphin) oder Heilmittelrezepten ist elektronisch bisher nicht möglich.