Zu Tausenden wankten Gefangene durch die Dörfer
Kurz vor dem Einmarsch der Franzosen auf dem Heuberg wurden die KZ-Häftlinge auf Todesmärsche geschickt
DEILINGEN/WEHINGEN/REICHENBACH/EGESHEIM - Vor genau 75 Jahren ist in unserer Region das „Tausendjährige Reich“nach zwölf verheerenden Jahren zusammengebrochen. Den abscheulichsten Teil samt der noch lebenden Zeugen wollte das Nazi-Regime verschwinden lassen und ordnete um den 18./19. April 1945 die Räumung der erst 1944 in unserer Region eingerichteten Konzentrationslager ein. Ein Komplex beutete zigtausende Häftlinge auf der Schwäbischen Alb aus zur Gewinnung von Öl aus Ölschiefer. Drei KZ davon waren in unmittelbarer Nähe: Schömberg, Schörzingen und Dautmergen. Die „Initiative Gedenkstätte Eckerwald“hat Augenzeugenberichte gesammelt und in dem Buch „Wüste 10“(Hrsg. Initiative Gedenkstätte Eckerwald, Gerhard Lempp et al.) niedergeschrieben.
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Deilingen
Brigitta Marquart-Schad, heute Vorsitzende des Vereins, hat 2013 mit Thomas Weinmann, damals zwölf, gesprochen. Er erinnert sich, dass Häftlinge in der Deilinger Pfarrscheuer einquartiert gewesen waren, im zweiten Stock, bewacht. Die Häftlinge seien sehr verschmutzt gewesen. Sie hätten einen Eimer an einem Seil herabgelassen, in den Deilinger Bürger Kartoffeln legten. Kurz danach seien, ebenfalls aus Richtung Schömberg die französischen Soldaten gekommen.
Wehingen
Maria Dietmann in Wehingen war 26 Jahre alt als sie – sie meint gegenüber Brigitta Marquart Schad im Jahr 2015 in der Nacht zum 19. April 1945 – Folgendes beobachtete: Vier oder fünf Wachleute des KZ Dautmergen seien in der elterlichen Küche gesessen. Sie hätten über das nahende Kriegsende
gesprochen. In der jetzigen Deilinger Straße habe sich ein ganzer Zug mit KZ-Häftlingen bewegt. Sie habe Brot aus dem Fenster geworfen und sei später auch hinaus gegangen, um Brot zu bringen. Ein Häftling habe ihr Drahtringe und einen Holzlöffel geboten. Sie tauschte das Brot gegen den Löffel, den sie über 70 Jahre im Gebrauch hatte.
Reichenbach
Tauschgeschäfte machten auch Kinder mit den Gefangenen, wie Josef Stegmiller in einem Schreiben gegenüber Marquart-Schad im Jahr 2013 berichtet. Er war sieben Jahre alt, als die Gefangenen in Kolonnen durch die kleine Gemeinde getrieben wurden. „Vorn, seitlich und hinten bewacht durch Soldaten, marschierten sie durchs Dorf. Marschieren dürfte aber nicht der richtige Ausdruck
sein. Ohne pathetisch zu wirken, kann man den Ausdruck „sie wankten“verwenden. Bekleidet waren sie so, dass man den Ausdruck „verlumpt“dazu sagen kann. Dies war sogar mir als Kind aufgefallen. Ich kann mich auch erinnern, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben gestreifte, also Gefangenenkleidung gesehen habe.“
Die Soldaten hätten durch barsches Auftreten versucht, die Kontakte zwischen der Bevölkerung und den Männern zu unterbinden, so Stegmiller. Doch trotz aller Verbote hätten die Kinder Kontakt aufgenommen. „Die zerlumpten Menschen trugen unter ihrer Kleidung Dinge, die uns begehrenswert waren. Wir hatten wiederum denen gegenüber oft etwas vorzuweisen, was nicht nur ihr Begehren weckte, sondern etwas, was sie unbedingt brauchten. Ware gegen Ware, Spielsachen gegen Essen. Ein makabrer Tausch, bei dem aber letztlich den hungernden Menschen geholfen wurde.“Kleine Figuren und anderes wurde während dieses Durchmarschs angeboten und getauscht. Stegmilller lief neben den Gefangenen her und nahm schließlich einen geschnitzten dreiteiligen Fisch für ein Stück Brot, das ihm, so glaubt er, seine „Ahne“gegeben habe. Ein Reiter mit Stiefeln sei beim Bahnhofsplatz mit einem Pferd aufgetaucht. Das Pferd hatte eine Kolik und musste erschossen werden. Frauen des Dorfes kochten das Pferd mit Kartoffeln, die Gefangenen durften essen.
Egesheim
In der Egesheimer Pfarrchronik ist der Todesmarsch unter „Gefangenendurchzug in Egesheim 1000er
Menschen durch Egesheim vor dem 21. April 1945“. Da steht zu den Ereignissen von vor 75 Jahren: „Da, am Samstag, den 21. April 45 musste das Unvermeidliche, Unabwendbare, das Unglaubliche geschehen. Tage zuvor zogen 1000e von Gefangenen durch, meist Russen, auch sog. „Zebras“von Schörzingen. Diese so genannt wegen ihrer Kleidung: gestreift, wie Zebrapferde. Die Wachposten zogen davor, dahinter, daneben, müd und matt. Teilweise kamen sie von ganz weit her. Die Gefangenen zogen Wagen daher, beladen mit allerlei Habseligkeiten. Die Russen verteilten Kinderspielwaren gegen Stücke Brot. Ein ganzer Trupp lagerte am Pfarrhaus.“
Die unterschiedlichen Trupps irrten auf verschiedenen Wegen Richtung Allgäu. Einige über Bärenthal, Beuron. In Ostrach wurde am 22. April eine Gruppe befreit. Die weiteste erst in Garmisch-Partenkirchen.