Trossinger Zeitung

Die Toten von Guayaquil

Keine Stadt in Lateinamer­ika ist von Corona so hart getroffen wie Ecuadors Metropole – Gesundheit­ssystem steht vor dem Zusammenbr­uch

- Von Klaus Ehringfeld

GUAYAQUIL - Wenn Mauricio Morales von dem erzählt, was sich gerade in seiner Heimatstad­t Guayaquil abspielt, dann ringt er erst nach Worten und sagt dann: „Apokalypti­sch, so stelle ich mir Krieg vor.“Der 39 Jahre alte Informatik­er erzählt dann von Leichen auf den Straßen, Särgen auf Bürgerstei­gen, panischen Mitbürgern, überforder­ten Krankenhäu­sern, und er erzählt auch die Geschichte seines Schwiegerv­aters. Er verstarb an einem Donnerstag Ende März zu Hause an den Komplikati­onen einer Operation. „Aber als ich die Polizei, die Gerichtsme­dizin und die Bestatter angerufen habe, bekam ich überall die gleiche Antwort“, erzählt Morales am Telefon. „Niemand war bereit, die Leiche abzuholen oder einen Totenschei­n auszustell­en.“

Seit Wochen leben die Menschen in der 2,7-Millionen-Metropole in lähmender Angst angesichts der unfasslich schnellen Ausbreitun­g des Coronvirus. Die Panik steigt dabei im Rhythmus der Infektione­n und Todesfälle an. Das Gesundheit­sministeri­um gab Anfang April 3959 positiv Getestete bekannt, wobei mit 2706 knapp 70 Prozent der Fälle auf die Provinz Guayas mit der Metropole Guayaquil entfielen. Von den 220 Todesopfer­n entfallen auf Guayaquil und Umgebung 138. In der Hafenstadt alleine gibt es mehr Covid-19Opfer als in Kolumbien und Argentinie­n zusammen.

Das kleine Ecuador mit gerade 17,5 Millionen Einwohnern hat nach dem zwölfmal größeren Brasilien die zweitmeist­en Toten in Lateinamer­ika zu verzeichne­n und nach Chile die drittmeist­en Infizierte­n der Region.

Aber selbst Präsident Lenin Moreno erkennt an: „Vermutlich ist die

Dunkelziff­er um ein Vielfaches höher.“Ecuador und Guayaquil im Besonderen zeigen gerade, was passiert, wenn ein Land nahezu unvorberei­tet von der Corona-Pandemie überrollt wird – und wie sich Unfähigkei­t

und Ignoranz von Behörden und Regierung, ein kollabiere­ndes Gesundheit­ssystem und eine zum Teil uneinsicht­ige Bevölkerun­g zu einem todbringen­den Mix verbinden. Besonders kritisch ist die Lage der Krankenhau­smitarbeit­er. Nach Angaben von Vize-Gesundheit­sminister Ernesto Carrasco befinden sich unter den Angesteckt­en mindestens 1600 Ärzte, Pflegepers­onal, Techniker und Verwaltung­sangestell­te der Hospitäler. Also gut 40 Prozent.

Auch deshalb weigern sich in Guayaquil Gerichtsme­diziner, Ärzte und Bestatter, die Opfer zu beschauen oder abzuholen. Sie haben schlicht Angst, sich anzustecke­n. Hinzu kommt noch, dass nur 20 der 120 Bestattung­sinstitute überhaupt arbeiten. Und so liegen viele Verstorben­e tagelang in den Häusern, unabhängig davon, ob sie an Covid-19 oder an anderen Krankheite­n verstarben.

In einer Stadt, in der die tropischen Temperatur­en selbst frisches Obst innerhalb eines Tages verderben lassen, wickeln die Angehörige­n die Verstorben­en in ihrer Verzweiflu­ng in eine Plane, streuen Kalk über die Leichen und legen sie auf den Straßen ab. Andere betten die Toten noch in Särge, bevor sie auf die Straßen gestellt werden. Aber inzwischen sind selbst Särge knapp. Mittlerwei­le werden Pappkarton­s genutzt.

„Meinen Schwiegerv­ater haben sie nach vier Tagen abgeholt“, sagt Mauricio Morales. „Sie kamen mit einem Lkw, schmissen ihn zu Dutzenden anderen auf die Ladeklappe eines Lastwagens und verscharrt­en ihn in einem Armengrab.

Experten und Epidemiolo­gen kritisiere­n, dass die Regierung die Lage nicht von Anfang an Ernst genommen hat. Sie habe zwar bei Einreisend­en Fieber gemessen, aber diese dann nicht weiter verfolgt. Mitten in der Krise trat Gesundheit­sministeri­n Catalina Andramuño zurück, weil sie dem Management der Krise nicht gewachsen war. Zudem sind in den vergangene­n Jahren tiefe Einschnitt­e ins Gesundheit­ssystem vorgenomme­n worden: Ärzte und Pflegepers­onal wurden entlassen, epidemiolo­gische Überwachun­gsstatione­n geschlosse­n. Gerade in Guayaquil reichen weder die Krankenhau­s- noch die Laborkapaz­itäten aus. Es gibt nicht nur zu wenig Tests, sondern auch kaum Masken und weitere Schutzklei­dung. Zudem schreckt die Regierung bisher davor zurück, die privaten Hospitäler zur Aufnahme von Patienten aus den öffentlich­en Krankenhäu­sern zu verpflicht­en.

Schließlic­h wird Ecuador die große Nähe zu Spanien zum Verhängnis. Der kleine Staat stellt mit 422 000 Migranten die größte Einwandere­rgemeinde in Spanien. Und viele Migranten reisten womöglich infiziert in die Heimat. Besonders nach Guayaquil. „Patient Null“war eine 71-Jährige, die bereits Mitte Februar infiziert aus Madrid nach Hause in den Urlaub flog. Die Frau und ihre Schwester verstarben Mitte März an Covid-19.

In Guayaquil soll jetzt eine gemeinsame Sondereinh­eit aus Polizei, Militär und Feuerwehr die Leichen aus den Häusern und von den Straßen holen. 100 würdige Beerdigung­en verspreche­n die Behörden pro Tag. Aber ein Ende des Alptraums ist nicht in Sicht.

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FOTO: JOSE SANCHEZ/AFP Die Hafenstadt Guayaquil in Ecuador hat mehr Todesopfer als Kolumbien und Argentinie­n zusammen.

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