Das Schweden Lateinamerikas
Mexiko geht einen gefährlichen Sonderweg bei der Coronavirus-Bekämpfung
MEXIKO-STADT - Seit Montag nach Ostern ist sie wieder da. Mit ihrem Pick-up voller Erdbeeren, Mangos, Papayas und Bananen hat Maria Solís an der Ecke Michoacán und Avenida Amsterdam in Mexico Citys hippem Stadtteil Condesa Stellung bezogen. So wie immer. Nur eine Woche Pause hat sich Solís über Ostern gegönnt. Länger kann sie nicht aussetzen. „Denn wenn ich nichts verkaufe, bringt mich zwar nicht das Coronavirus um, aber der Hunger“.
Die 32-Jährige muss mit dem Geld, das sie jeden Tag mit ihrem Obstverkauf von der Ladeklappe macht, sich und ihren kleinen Sohn ernähren. Wie Solís arbeitet mehr als die Hälfte der werktätigen Bevölkerung Mexikos im informellen Sektor. „Von den 57 Millionen wirtschaftlich aktiven Mexikanern sind lediglich 20,1 Millionen in das Sozialsystem IMSS eingebunden“, sagt der politische Analyst Jorge Zepeda Patterson. Und die übrigen 37 Millionen Menschen leben oft „al día“, wie es im Spanischen heißt. Also von dem, was sie an dem jeweiligen Tag verdienen. Wenn sie an einem Tag nichts verkaufen, essen sie auch an diesem Tag nicht.
Es ist ein Problem, das fast alle Länder Lateinamerikas haben, die einen mehr, die anderen weniger. In Mexiko, der zweitgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas, ist die Informalität besonders ausgeprägt. Auch deshalb weigert sich der linke Präsident Andrés Manuel López Obrador bis heute, striktere Maßnahmen zu verhängen.
Mexiko ist in Sachen Coronavirus-Bekämpfung das Schweden Lateinamerikas und setzt eher auf Laisser-faire und moralische Appelle anstatt auf Ausgangssperren und Kontaktverbote, um der ohnehin gebeutelten Wirtschaft nicht noch stärker zu schaden. Lange schien es, als fürchte der Präsident den ökonomischen Zusammenbruch seines Landes mehr als die Corona-Pandemie. Und die Zahlen geben ihm recht.
Seit Mitte März haben fast 350 000 Mexikaner ihren Job verloren. Das sind mehr vernichtete Arbeitsplätze als im gesamten vergangenen Jahr überhaupt an neuen Arbeitsstellen geschaffen wurde, wie das Arbeitsministerium mitteilte. Besonders hart ist der Tourismussektor betroffen, eine der wichtigsten Branchen des Landes. Allein im Karibik-Bundesstaat Quintana Roo mit den Urlaubszentren Cancún und
Playa del Carmen strichen die Unternehmer 64 000 Stellen. In der Hauptstadt Mexico City sind es 55 000.
Der mexikanische Peso gehört weltweit zu den Währungen, die in der Corona-Krise am stärksten gelitten haben. Die Währung verlor im ersten Quartal des Jahres alleine 20 Prozent. Das ist der höchste Quartalsverlust in den vergangenen 50 Jahren. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) bestätigte jetzt, dass Mexiko gleichsam das Epizentrum der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie in Lateinamerika ist.
Klammert man Venezuela aus, wird kein Land der Region unter der Krise so stark leiden wie Mexiko. Um 6,6 Prozent werde das Bruttoinlandsprodukt 2020 sinken. Die Gründe: die Nähe zu den hart von der Pandemie getroffenen USA, die Abhängigkeit der stark globalisierten Wirtschaft von internationalen Lieferketten sowie der drastische Einbruch in Tourismus und beim Ölpreis.
Auch wegen dieser ökonomischen Wahrheiten erklärte die mexikanische Regierung für den Monat April lediglich den „Gesundheitsnotstand“,
was die „nicht unmittelbar notwendigen“Industrien zum Schließen zwang.
Die Bevölkerung wird eindringlich darum gebeten, zu Hause zu bleiben, aber eine verpflichtende Quarantäne ist nicht verhängt. Auch die Grenzen sind weiter offen. Und so wird auf den Baustellen weiter gebaut, bieten viele Cafés und Restaurants Service zum Mitnehmen an. Und vor den Eisdielen in MexikoStadt bilden sich lange Schlangen. López Obrador versucht dabei, ein Bild von Ruhe zu vermitteln und die Bedrohung der Pandemie für Mexiko kleinzureden. „Wir gehören zu den zehn Ländern weltweit mit den wenigsten Infektionen und den wenigsten Toten“, behauptet er. Eine Einschätzung, die einer Prüfung kaum standhält.
Anfang des Monats kündigte der Präsident ein Paket an, mit dem die Wirtschaft wieder angekurbelt werden soll. Er werde der Krise mit der Schaffung von zwei Millionen neuen Arbeitsplätzen bis Jahresende begegnen, sagte López Obrador, ohne zu verraten, wie das funktionieren soll. Hohe Staatsbedienstete müssen auf
Gehalt und Weihnachtsgeld verzichten. Selbstständige im informellen Sektor, wie zum Beispiel die Obsthändlerin María Solís, könnten hingegen Kredite beantragen.
Aber mittelständische und große Betriebe sowie in- und ausländische Unternehmen gehen leer aus. Weder werden Steuerverpflichtungen gestundet, um Liquiditätsengpässe zu vermeiden, noch schuf die mexikanische Bundesregierung ein Fiskalpaket für die Wirtschaft. „Zuallererst müssen wir die Armen schützen", betont der Staatschef.
Sollte das Coronavirus Mexiko noch hart treffen, wird es allerdinggs sehr kritisch. Denn das Gesundheitssystem des Landes ist auf einen massiven Ausbruch der Lungenkrankheit nicht vorbereitet. Seit Jahren wird der Gesundheitssektor ausgeblutet – zum einen durch Korruption und andererseits durch schwindende Investitionen. Mexiko ist das OECD-Land, das am wenigsten in Gesundheit investiert. Zudem sind landesweit 327 Krankenhäuser, Polikliniken und Gesundheitsposten aufgegeben, geplündert oder nur halb fertiggestellt.