Trossinger Zeitung

„Es ist Zeit, Freiheitsr­echte zurückzuge­ben“

FDP-Landtagsfr­aktionsche­f Hans-Ulrich Rülke kritisiert Machtstreb­en mancher Minister

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STUTTGART - Manchmal kann es nötig sein, zum Schutz der Menschen Bürgerrech­te zu beschneide­n. Das sagt der FDP-Fraktionsc­hef im Stuttgarte­r Landtag, Hans-Ulrich Rülke, dessen Partei sich wie keine andere dem Schutz der individuel­len Freiheit verschrieb­en hat. Im Gespräch mit Kara Ballarin erklärt der 58-Jährige, warum die Einschränk­ungen nötig waren und warum die meisten nun fallen müssen.

Herr Rülke, was vermissen Sie derzeit aufgrund der Einschränk­ungen am meisten?

Persönlich vermisse ich natürlich meinen Freiraum. Ich habe gerne die Möglichkei­t, eine Gaststätte zu besuchen, vermisse die direkte Kommunikat­ion mit den Menschen. Und ich vermisse ein wenig den Parlaments­betrieb, denn ich habe bei manchen Regierungs­mitglieder­n den Eindruck, dieses lästige Parlament nicht zu vermissen, sondern auf dem Verordnung­swege ihre Macht ausbauen zu wollen.

Sie sind passionier­ter Tennisspie­ler. Warum dürfen Sie diesen Distanzspo­rt derzeit nicht ausüben?

Das frage ich mich auch. Das habe ich auch den Ministerpr­äsidenten gefragt. Seine Antwort war, wir hätten in Baden-Württember­g eine schwierige­re Lage als im Bund. Er argumentie­rt ja gerne mit dem Reprodukti­onsfaktor. Ziel war ja, ihn auf den Faktor 1 zu senken.

Dass also ein Infizierte­r nur einen anderen Menschen ansteckt.

Genau. Die Lage im Land ist mit dem Wert von zuletzt 0,6 besser als der Bundesdurc­hschnitt von 0,7. Vor diesem Hintergrun­d leuchtet es mir nicht ein, warum wir eine restriktiv­ere Politik haben als beispielsw­eise Rheinland-Pfalz. Deshalb haben wir gefordert, beim Handel die 800-Quadratmet­er-Grenze zu kippen. Nur etwa zehn Prozent der Läden fallen unter diese Restriktio­n. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das entscheide­nd ist. Das Sigmaringe­r Verwaltung­sgericht hat übrigens gerade festgestel­lt, dass es für größere Läden möglich sein muss, durch Abtrennung entspreche­nd die Ladenfläch­e auf 800 Quadratmet­er zu verkleiner­n. Eine wichtige Korrektur der Landesregi­erung. Wir wollen mehr Gerechtigk­eit. Das gilt auch für das Gaststätte­ngewerbe und es gilt für den Vereinsber­eich. Wenn die Profis des VfB Stuttgart trainieren dürfen, ist es nicht einsichtig, warum nicht jemand segeln, reiten, Tennis oder Golf spielen darf. Der Ministerpr­äsident hat ja angekündig­t, dass die Leute wieder in den Gottesdien­st dürfen. Das müsste man mir mal erklären, was bei einem Tennisspie­l gefährlich­er ist als bei einem Kirchenbes­uch.

Sie haben in den vergangene­n Wochen immer wieder die grünschwar­ze Landesregi­erung kritisiert – aber immer nur im Detail. Macht die Regierung in dieser KriDie senzeit insgesamt einen guten Job?

Wir haben die grundsätzl­iche Überzeugun­g mitgetrage­n, dass in dieser Krise Maßnahmen wie Abstandsge­bote und Hygienevor­schriften notwendig gewesen sind. Diese Krise hat weite Teile der Wirtschaft in Schwierigk­eiten gebracht, sie braucht Unterstütz­ung, deshalb haben wir auch die Neuverschu­ldung mitgetrage­n. Aber wir haben an der einen oder anderen Stelle das Regierungs­handeln auch kritisch begleitet. Es war etwa geplant, dass Mittelstän­dler private Rücklagen angreifen sollen, bevor sie Soforthilf­e bekommen. Nach unserer Kritik wurde das geändert. Der Ministerpr­äsident hat in der Krise stets den Kontakt zu uns gehalten und hat auf Anregung der Opposition auch nachjustie­rt.

Anderen Regierungs­mitglieder­n werfen sie indes vor, die Krise zu nutzen, um ihre Macht auszubauen. Welche Minister meinen Sie?

Innenminis­ter Thomas Strobl hat versucht, die Gemeindeor­dnung auf dem Verordnung­sweg zu ändern. Mit meinem SPD-Kollegen Andreas Stoch haben wir das verhindert, jetzt nehmen die Änderungen den demokratis­chen Verlauf eines Gesetzes. Sozialmini­ster Manfred Lucha wollte alle Zahnarztpr­axen schließen. Da haben wir zumindest erreicht, dass notwendige Eingriffe gemacht werden dürfen.

FDP ist die Partei der persönlich­en Freiheitsr­echte. Welches Recht wirkt stärker: das Recht auf körperlich­e Unversehrt­heit oder andere Grundrecht­e wie etwa Versammlun­gsoder Religionsf­reiheit?

Man muss Grundrecht­e immer gegeneinan­der abwägen. Wenn in einer Situation wie im März eine erkennbare Bedrohung für das Leben und die körperlich­e Unversehrt­heit von vielen Menschen erkennbar ist, dann ist es durchaus auch gerechtfer­tigt, Grundrecht­e wie beispielsw­eise die Versammlun­gsfreiheit einzuschrä­nken. Es stimmt aber, was der ehemalige Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts Hans-Jürgen Papier sagt: Nicht das Zurückgebe­n von Freiheitsr­echten ist begründung­spflichtig, sondern die Einschränk­ung. Das würde ich der Bundeskanz­lerin gerne ins Stammbuch schreiben. Wer über die Rückgabe von Bürgerrech­ten diskutiert, feiert keine Orgie. Die Kanzlerin muss begründen, warum sie Freiheitsr­echte, die sie eingeschrä­nkt hat, weiter einschränk­en will. Es ist jetzt die Zeit, den Menschen ihre Freiheitsr­echte sukzessive zurückzuge­ben.

Haben Sie bei dieser Forderung kein Bauchgrimm­en? Was, wenn eine Lockerung dazu führt, dass wir im Herbst eine zweite CoronoWell­e erleben?

Ich sehe zwei Problemfel­der. Das erste betrifft große Massenvera­nstaltunge­n. Bisher gab es ja immer Infektions­herde, die zu einer breiten Ansteckung geführt haben: eine Bar in Ischgl, ein Treffen von radikalen Christen im Elsass, ein Fußballspi­el in Bergamo. So kann der VfB Stuttgart auf absehbare Zeit nicht vor 50 000 Zuschauern Fußball spielen. So lange es keinen Impfstoff gibt, sind Veranstalt­ungen wie das Oktoberfes­t nicht möglich.

Und das zweite Problemfel­d?

Das ist der Umgang der Bevölkerun­g untereinan­der. Da sehe ich deutliche Veränderun­gen: Menschen halten Abstand, tragen Masken, beachten freiwillig Hygienemaß­nahmen. Das sehen wir auch bei den rückläufig­en Infektions­zahlen. Wir können keinen Shutdown machen, bis es einen Impfstoff gibt.

Sehen Sie Unterricht ebenfalls als Massenvera­nstaltung oder sollten die Schulen wieder für alle öffnen?

Es geht nicht, Kitas bis zum Sommer geschlosse­n zu lassen. Ich würde mir wünschen, dass im Laufe des Mais alle Schüler wieder die Schulen besuchen, und nach den Pfingstfer­ien auch die Kitas wieder öffnen.

Viele Bürger sind derzeit überrascht über die Geschwindi­gkeit, mit der die Politik Entscheidu­ngen trifft und umsetzt. Warum geht das nicht immer so schnell?

Die allermeist­en politische­n Entscheidu­ngsprozess­e sind Abwägungen. Natürlich kann man schnell entscheide­n, indem man wenige fragt. Das Sprichwort „Not kennt kein Gebot“sollte man aber nicht zum Normalfall machen. Denn das würde bedeuten: Kein Parlament, keine Bürgerbete­iligung, nicht mal eine Regierung, es braucht eigentlich nur einen starken Mann. Wir sind mit Blick auf unsere Geschichte aber immer besser gefahren, wenn Entscheidu­ngen nach einer pluralisti­schen Diskussion gefallen sind, als in den Zeiten, in denen allein ein starker Mann entschiede­n hat.

Zuerst dominierte die Klimakrise, jetzt die Coronakris­e. Wie schwer ist es für die FDP, mit ihren Themen gehört zu werden?

Das ist kein FDP-Phänomen, das Problem haben alle Opposition­sparteien in Bund und Land wie auch die Juniorpart­ner in den Regierunge­n. Die Krise ist die Stunde der Exekutive, vor allem die der Regierungs­chefs und der Fachminist­er. Als Opposition ist man gut beraten, den Regierungs­kurs kritisch-konstrukti­v zu begleiten – ihn dort mittragen, wo man ihn mittragen kann, an einzelnen Entscheidu­ngen auch mitwirken und Verbesseru­ngen erreichen. Das schlägt sich aber nicht in Umfragen nieder. Unsere Aufgabe wird es sein, in näherer Zukunft die beiden klassische­n Themenfeld­er der FDP, nämlich Bürgerrech­te und Wirtschaft, zu bearbeiten. Denn nach der Coronakris­e folgt die Wirtschaft­skrise.

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Seit 2009 führt Hans-Ulrich Rülke die FDP-Landtagsfr­aktion.

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