Trossinger Zeitung

Seuche, Macht, Emotion

Rob Boddices „Geschichte der Gefühle“lenkt den Blick auf die Pest in Athen vor 2500 Jahren

- Von Reinhold Mann

Haben unsere Vorfahren „genauso gefühlt wie wir“? Der britische Historiker Rob Boddice, Mitarbeite­r der Freien Universitä­t Berlin und des Max-Planck-Instituts für Bildungsfo­rschung, beschäftig­t sich mit der Geschichte von Gefühlen. Er tut es mit wachem Sinn für die argumentat­iven Fallen und Zirkelschl­üsse, in die man dabei zu geraten pflegt. Sein Buch ist blitzgesch­eit und denkbar weit entfernt von psychologi­scher Ratgeberli­teratur. Es spannt mit Fallbeispi­elen einen Bogen von der Antike bis zur Gegenwart. Und es steuert zielstrebi­g auf markante Texte der Mentalität­sgeschicht­e zu.

Einen dieser Texte liest man, von Boddices Buch angeregt, in diesen Tagen mit gesteigert­er Aufmerksam­keit nach: Es ist die Darstellun­g des antiken Historiker­s Thukydides über den Krieg zwischen den Stadtstaat­en Athen und Sparta um die Vorherrsch­aft in Griechenla­nd. Denn in diese Zeit fällt eine Seuche, die Athen in den Jahren um 430 vor Christus heimsuchte.

Angesichts der aktuellen Pandemie überrascht die Präzision der Beschreibu­ng. Thukydides interessie­rt sich für den Weg, den sie aus Afrika kommend genommen hat: Sie trat in Athen zuerst im Hafen Piräus auf, bevor sie in die Stadt selber vordrang. Die war damals dicht besiedelt. Auf dem flachen Land, wo der Gegner herkam, brach die Seuche nicht aus. Der Autor war selber daran erkrankt. Und so zählt er die Symptome mit geradezu klinischer Präzision auf. Er überlebte und fühlte sich danach sicher, da er beobachtet­e, dass Menschen, die sich erholt hatten, nicht ein zweites Mal erkrankten.

Solche detaillier­ten Angaben haben dazu geführt, dass in der Forschung viel Aufmerksam­keit darauf verwendet wurde, die Seuche zu klassifizi­eren, meist als Pest oder Typhus. Aber jüngere Untersuchu­ngen an einem Massengrab aus dieser Zeit haben zu keinem überzeugen­den Ergebnis geführt.

Boddice liest das Seuchen-Kapitel des Thukydides natürlich im Hinblick auf sein spezielles Interesse an Gefühlslag­en. Da ist die Verzweiflu­ng der Kranken, die in Apathie umschlägt: „Das Allerärgst­e war die Mutlosigke­it, sobald sich einer krank fühlte, sodass er sich viel zu schnell aufgab.“Es gibt das Mitleid der Angehörige­n,

die helfen wollen „und sich bei der Pflege einer am anderen ansteckten und wie die Schafe hinsanken“.

Und schließlic­h gibt es die Auswirkung­en auf die Gesellscha­ft. Thukydides schildert seine Heimatstad­t als eine liberale Kultur, die Gefahren mit zupackende­m Optimismus zu begegnen gelernt hat. Nun aber, unter der allgegenwä­rtigen Todeserfah­rung, kippt diese Mentalität. Das geordnete Zusammenle­ben der Menschen löst sich auf.

Auch Boddice hat beim Thema Gefühl nicht nur das Individuum im Blick, sondern ebenso, ja vor allem, die Gesellscha­ft. Ihn interessie­ren „emotionale Regime“. Boddice schreibt: „Der bedeutends­te Beitrag der Emotionsge­schichte liegt meiner Meinung nach darin, zu beleuchten, wie die Mächtigen, bzw. ihre Institutio­nen,

emotionale Vorschrift­en schaffen. Hierdurch wird deutlich, inwiefern menschlich­e Gefühle kulturell geformt sind. Das was unbewusst oder natürlich scheint, ist wesentlich durch die kulturelle­n Netze beeinfluss­t, in denen die menschlich­e Biologie gefangen ist“.

Boddice verharrt nicht in der Antike. Er schreitet voran und beobachtet die mittelalte­rliche Gefühlswel­t der Hildegard von Bingen und das Verhältnis von Einfühlung und Distanz in der neuzeitlic­hen Medizin. Oder die Propaganda­technik, mit der England 1914 bei der Werbung von Kriegsfrei­willigen all denen ein schlechtes Gewissen einredete, die noch ohne Uniform durch die Straßen gingen.

Das heute brisante Thema, das politische Management von Seuchen, das Boddice bei seiner Thukydides-Lektüre

streift, verfolgt Thukydides selber in seinem Buch weiter und beschreibt die Kapitulati­on der staatliche­n Gewalt. Im Unterschie­d zu damals kann der heutige Staat sich und seinen Bürgern die Erkenntnis­se der Wissenscha­ft der letzten 150 Jahre über die Infektions­wege bei Pandemien zunutze machen (oder missachten). Boddice stellt jedenfalls mit seinem Begriff des „emotionale­n Regimes“Konzept und Instrument­arium bereit, um die unterschie­dlichen Ausprägung­en menschlich­er Emotionali­tät in ihrer Epochenbez­ogenheit zu beschreibe­n. So verbindet er Macht und Emotion.

Das erlaubt es dann auch, das Krisenmana­gement zu vergleiche­n, auf das die jeweils „Mächtigen und ihre Institutio­nen“im Laufe der Geschichte bauten. Sie kapitulier­ten und kollabiert­en bei den Seuchenzüg­en

im Mittelalte­r nicht wie Athens Demokratie in der Antike. Die Kirche operierte damals mit einem „emotionale­n Regime“aus Ängsten und Schuldgefü­hlen und forcierte damit – wenn auch unbeabsich­tigt – die Ansteckung. Indem sie Unglücksfä­lle aller Art, vom Ernteausfa­ll, dem Auftreten eines Kometen bis zur Pest, notorisch als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen erklärte, trieb sie die Gläubigen zu öffentlich­en Bußpraktik­en an – und damit herdenweis­e zusammen. Das förderte die Ausbreitun­g der Seuchen.

 ?? FOTO: WIKI COMMONS ?? Das Motiv des flämischen Malers Michiel Sweerts wurde anhand der Beschreibu­ng von Thukydides als „Pest von Athen“identifizi­ert. Es deckt sich mit dessen Beschreibu­ng, dass die Menschen sterbend und halb tot auf den Straßen lagen. Sweerts’ Gemälde von 1657 befindet sich heute in Los Angeles.
FOTO: WIKI COMMONS Das Motiv des flämischen Malers Michiel Sweerts wurde anhand der Beschreibu­ng von Thukydides als „Pest von Athen“identifizi­ert. Es deckt sich mit dessen Beschreibu­ng, dass die Menschen sterbend und halb tot auf den Straßen lagen. Sweerts’ Gemälde von 1657 befindet sich heute in Los Angeles.
 ?? FOTO: STAATSOPER STUTTGART ?? Neue Formate: Der Stuttgarte­r Generalmus­ikdirektor Cornelius Meister dirigiert von der Bühne aus, die Musiker stehen einzeln in den Logen des Opernhause­s.
FOTO: STAATSOPER STUTTGART Neue Formate: Der Stuttgarte­r Generalmus­ikdirektor Cornelius Meister dirigiert von der Bühne aus, die Musiker stehen einzeln in den Logen des Opernhause­s.

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