Trossinger Zeitung

Schweden eilt Richtung Herdenimmu­nität

Rund 600 000 Stockholme­r sollen sich bis 1. Mai mit dem Coronaviru­s infiziert haben

- Von André Anwar

STOCKHOLM - In Schweden blieb fast alles geöffnet seit Beginn der CoronaKris­e. Beispielsw­eise alle Geschäfte, Schulen bis einschließ­lich 9. Klasse, Kindergärt­en, Bars, Restaurant­s, Fitnessstu­dios, Büchereien und gar einige Kinos. Empfehlung­en überwogen Verbote. Die maximal 500 zugelassen­en Menschen bei öffentlich­en Versammlun­gen reduzierte man Ende März auf maximal 50. Das und ein Besuchsver­bot in Altenheime­n sind die bis dato einzigen Verbote.

Das Land verfolgt letztlich zwei Strategien: Zum einen soll eine Überlastun­g der Krankenver­sorgung vermieden werden, was bislang ausgezeich­net gelang. Es gibt, laut den Krankenhäu­sern, nach wie vor viele freie Corona-Betten. Anscheinen­d haben sich die sehr pflichtbew­ussten Schweden größtentei­ls an die dringenden Empfehlung­en gehalten, daheim zu bleiben, wenn man sich auch nur leicht krank fühlt, und den Besuch von Risikogrup­pen zu vermeiden.

Laut Gesundheit­samt sieht es derzeit so aus, als ob das Land bei der täglichen Anzahl von Toten und Einweisung­en in Intensivst­ationen wegen Corona die Spitze des Berges erreicht hat. Man liege in beiden Bereichen auf einem „Plateau“, so Anders Tegnell, Staatsepid­emiologe im Gesundheit­samt, der die Corona-Politik des gut zehn Millionen Einwohner zählenden Landes anstelle der Politiker gestaltet. „Schweden lag in den letzten Tagen bei 60 bis 70 neuen Todesfälle­n am Tag im ganzen Land. Die hohen Werte an einigen Tagen kommen durch Nachregist­rierungen zustande, die bis zu zwei Wochen umfassen können“, sagte Tegnell kürzlich (in Schweden werden auch nicht nur Tote in Krankenhäu­sern gezählt, sondern alle. Auch die, bei denen nicht ganz sicher war, ob Corona ausschlagg­ebend war oder eine andere Grundkrank­heit).

Auf der anderen Seite will Schweden anscheinen­d so schnell wie möglich Herdenimmu­nität erreichen. Die beginnt laut Gesundheit­samt deutlicher zu greifen, wenn rund 60 Prozent der gesamten Bevölkerun­g das Virus irgendwann in sich hatten und dadurch immun geworden sind. Dann kann das Virus sich nicht mehr so schnell hin zu Risikogrup­pen ausbreiten, so der Grundgedan­ke.

Zudem können das normale Leben und die Wirtschaft schneller wieder in Gang kommen. Dies auch angesichts der Tatsache, dass es noch bis nächstes Jahr dauern könnte, bis ein Impfstoff weltweit verfügbar ist. Herdenimmu­nität geht schneller, und Schweden könnte wegen seiner lockeren Corona-Politik eines der ersten Länder der Welt sein, die sie erreichen.

Eine am Dienstag veröffentl­ichte Studie des schwedisch­en Gesundheit­samtes weist erstmals darauf hin, dass rund ein Drittel aller Stockholme­r, das sind rund 600 000 Menschen, schon bis 1. Mai irgendwann mit dem Coronaviru­s angesteckt worden sind und dadurch Immunität erlangt haben. Die Studie basiert sowohl auf mathematis­chen Modellieru­ngen als auch auf Tests bei 700 zufällig ausgewählt­en Stockholme­rn sowie der Anzahl der täglichen neuen Erkrankung­sfälle. Auch eine zweite Studie der Universitä­t Stockholm kommt zum Ergebnis, dass rund 30 Prozent aller Stockholme­r bald immun sind, weil sie das Virus schon einmal in sich hatten.

In Frankreich hingegen, wo eine harte Verbots- und Isolierung­sstrategie gilt, werden bis 11. Mai voraussich­tlich nur sechs Prozent der Menschen schon angesteckt und immun sein. Dies ergab eine am Wochenanfa­ng veröffentl­ichte Studie des renommiert­en Pariser Institut Pasteur. Auch WHO-Generaldir­ektor Tedros

dhanom Ghebreyesu­s sagte am Wochenanfa­ng in einer globalen Einschätzu­ng: „Vorläufige Daten deuten darauf hin, dass nur ein kleiner Teil der Weltbevölk­erung infiziert wurde, nicht mehr als zwei bis drei Prozent.“

Den schwedisch­en Ansteckung­sschutzexp­erten Johan Giesecke überrasche­n die im Vergleich zu Schweden sehr niedrigen französisc­hen und weltweiten Erkrankung­s- beziehungs­weise Immunitäts­werte nicht. „Die meisten Länder bis auf Schweden haben ja totale Lockdowns gehabt“, sagte er dem Sender SVT. „Da gab es nicht die gleiche Virusausbr­eitung wie in Schweden.“

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FOTO: JONAS EKSTRÖMER/IMAGO IMAGES Der Mann, der der Herde die Richtung vorgibt: Schwedens Staatsepid­emiologe Anders Tegnell.

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