„Unser Personal leistet Unmenschliches“
Martin ten Bosch erzählt, wie Corona Lebenshilfe und Menschen mit Handicap herausfordert
TUTTLINGEN - In der Werkstatt dürfen sie nicht mehr arbeiten, Betreuungsangebote sind eingestellt: Vielen Menschen mit Behinderung fehlt in der Coronakrise ein geregelter Tagesablauf, der eigentlich besonders wichtig für sie ist. Die Mitarbeiter der Lebenshilfe stehen vor großen Herausforderungen, auch finanziell. Geschäftsführer Martin ten Bosch erzählt im Interview mit Volontärin Birga Woytowicz, was ihn aktuell traurig macht und warum er der Krise trotz allem etwas Positives abgewinnen kann.
Herr ten Bosch, eigentlich wollten Sie dieses Jahr 50 Jahre Bestehen der Lebenshilfe feiern...
Corona hat die Planung durchkreuzt. Wir hatten erst auf April, dann auf Juni verschoben. Aber da die Pandemie nicht über Nacht verschwinden wird, wird es wohl eher nächstes Jahr werden, dass wir feiern können. Dann feiern wir eben den 50 plus 1. Geburtstag. Gemeinsam feiern bedeutet, sich zu treffen, zu lachen. Für Menschen mit Behinderung steht an erster Stelle, sich persönlich auszutauschen. Sich virtuell zu treffen ist da nicht gewünscht, so funktioniert Inklusion nicht. Stattdessen passiert ja gerade Separation.
Wie sehr schränkt die Krise ihre Angebote ein?
Den Förder- und Betreuungsbereich haben wir komplett geschlossen. Im Bereich der Seniorenbetreuung haben wir eine Isolierstation eingerichtet, mit Schleusen und Pflegebetten. Im Pandemiefall können wir sechs Menschen aufnehmen. In den Werkres
Landkreis Tuttlingen stätten dürfen Menschen mit Behinderung laut Landesnotverordnung nicht mehr arbeiten. Viele von ihnen haben Herzfehler oder Lungenkrankheiten, ihre inneren Organe sind nicht richtig ausgebildet. Damit gehören sie zur Risikogruppe. Da wir aber noch einige Aufträge aus der Medizintechnik haben, haben wir einen Notbetrieb eingerichtet. Die Arbeit macht jetzt das Betreuungspersonal, gut zwei Dutzend Personen. Im Regelbetrieb arbeiten rund 350 Menschen mit Behinderung in den Werkstätten.
Die Werkstätten sind ein Non-Profit-Betrieb. Was bedeutet ihr Stillstand wirtschaftlich für die Lebenshilfe?
Die Werkstätten generieren einen sehr kleinen Teil der Bilanz, die es uns eben auch ermöglicht, uns Dinge zu leisten, die nicht durch den Staat oder das Landratsamt finanziert werden. Dies ist aber nur die eine Wahrheit. Denn wir sind per Gesetz dazu verpflichtet, zum einen Grundlohn zu zahlen, zum anderen schütten wir mindestens 70 Prozent der Erlöse des Werkstattbetriebes als Grundlohn plus Steigerungsbetrag aus. Das heißt im Ergebnis: Je besser die Werkstatt mit ihren Menschen arbeitet, desto mehr Lohn erhalten die Beschäftigten. Da entsteht jetzt ein Loch in der Tasche, die Menschen können sich vielleicht nicht mehr etwas Besonde
zu essen kaufen, oder spezielle Pflege- oder Tabakprodukte. Für den März waren wir sicher, aber große Sorgen mache ich mir um die Monate danach. Ich rechne damit, dass wir im zweiten Quartal nur zehn Prozent unserer normalen Leistung erbringen können. Ich weiß nicht, wie wir dann die vollen Löhne zahlen können. Da bleibt dann vielleicht nur noch die erhöhte Grundsicherung. Bedeutet faktisch: Der größere Teil des Lohnes bricht weg.
Der Staat hat Schutzschirme aufgespannt: Inwiefern profitiert die Lebenshilfe davon?
Kredite können wir nicht beantragen, dafür stehen wir wirtschaftlich noch zu gut da. In Kurzarbeit können wir nur das Betreuungspersonal schicken, aber wir brauchen ja die Mitarbeiter, denn Menschen mit Behinderung brauchen ja unsere Unterstützung – Menschen mit Behinderung dürfen gerade ja nicht arbeiten. Manchmal macht es mich schon arg böse, dass wir Werk- und Wohnstätten nicht wirklich bedacht werden. Wir werden wie Alten- und Pflegeeinrichtungen gesehen, bekommen nahezu dieselben Auflagen. Aber dann bekommen wir nicht die entsprechenden Mittel dazu. Das ist traurig.
Wenn so viel wegbricht: Wie ist die die Gefühlslage bei den Klienten?
Die Furcht äußert sich ganz unterschiedlich. Manche haben wahnsinnig Angst, sich zu infizieren. Man muss bedenken, dass wir von ganz jungen Menschen in der Frühförderungsstelle, über junge Erwachsene im Berufsbildungsbereich bis hin zu Senioren haben. Unsere älteste Bewohnerin ist 85 Jahre alt. Einige isolieren sich gerade völlig und ziehen sich zurück, andere entwickeln Phobien und Depressionen. Denen fällt die Decke auf den Kopf. Wir versuchen, die Menschen so gut es geht zu beschäftigen, mit hauswirtschaftlichen Tätigkeiten, Spielen oder kleinen Spaziergängen. Unser Betreuungspersonal leistet da gerade Unmenschliches. Besonders hart trifft es auch die, die normalerweise in der Werkstatt arbeiten, aber nicht in den Wohngruppen, sondern alleine wohnen. Da betreuen wir telefonisch, per Mail oder – wenn zwingend nötig – durch Besuch.
Wie setzen Sie ihre Leute gerade ein, wenn ein Großteil der Angebote gerade pausiert?
Die Kollegen aus der Frühförderung sind in Kurzarbeit. Aber in den Wohnheimen haben wir das Personal verdreifacht und einen Drei-SchichtBetrieb eingeführt. Normalerweise war das Personal nach Werkstatt und Wohnen getrennt, jetzt wurden sie quasi per order de mufti aufgefordert, im Team im Wohnen zusammen zu arbeiten. Dahingehend sehe ich in der Krise einen riesengroßen Gewinn: Zu erkennen, dass die Mitarbeiter untereinander großes Verständnis haben. Ich hätte nie gedacht, dass wir so ein tolles Team sind. Ich war wahnsinnig beeindruckt! 170 Mitarbeiter ziehen an einem Strang, auf Distanz sind wir zusammen. Jeder ist ein Teil des Ganzen und stützt die Lebenshilfe. Ein herzliches Dankeschön an meine Kollegen.