Trossinger Zeitung

Dokumentat­ion zu den großen Lebensthem­en

Zu 75 Jahren Kriegsende legt Heinz Geyer eine Dokumentat­ion vor, die eigentlich ein glühender Appell ist

- Von Regina Braungart

SPAICHINGE­N/ALDINGEN/TUTTLINGEN - Mahner? – Ja. In der Wüste? – Nein. Denn Heinz Geyer wird gehört, auch heute noch, auch wenn die Mission des früheren Gewerkscha­fts-Bezirksvor­sitzenden im Ruhestand eine Herkulesau­fgabe ist: Die Dokumentat­ion der Geschichte des DGB im Kreis Tuttlingen und die großen Linien, die sich für ihn über lange Strecken mit denen der Sozialdemo­kratie deckten – bis zur Rüstungspo­litik der Regierungs­partei und – der endgültige Bruch für Geyer – bis zu Schröders Agenda 2010: Themen wie Arbeitnehm­errechte, soziale Gerechtigk­eit, Abrüstung, Internatio­nalität und Umweltschu­tz. Für seine umfassende Dokumentat­ion möchte er Multiplika­toren wie Lehrer, Geschichts­vereine, Politiker und andere interessie­ren.

Ein ganz großes Thema sind für Geyer, der einen Tag nach Heiligaben­d im Kriegswint­er 1943 im Kreis Esslingen geboren ist und der seinen Vater im Krieg noch verlor, Nationalso­zialismus und Rechtsradi­kalismus. Es nie wieder so weit kommen zu lassen wie 1933. Die Leser dieser Tageszeitu­ng werden zum Datum des Erscheinen­s dieses Artikels, 8. Mai, sofort die Bedeutung assoziiere­n. Ob das bei Nutzern der so genannten sozialen Medien wie Facebook auch so ist?

Zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, als geschätzt 55 Millionen Menschen ihr Leben verloren hatten, darunter die Opfer des nationalso­zialistisc­hen Rassenhass­es und deren gnadenlose­n Überlegenh­eitswahns, als abermals Millionen deutsche Zivilisten auf der Flucht leiden mussten, als die Alliierten als Befreier, aber auch Besatzer dem Grauen endgültig ein Ende machten. Zu diesem Ende und den aktuellen Entwicklun­gen passe diese Dokumentat­ion, sagt Geyer.

„Haben wir aus der Geschichte gelernt?“– das sei die Kernfrages­tellung seiner Arbeit gewesen. Er hatte für die Anfänge – die Gewerkscha­ft war ab ihrer Gründung 1893 in starkem Maße durch die Schuhmache­rverbände in Tuttlingen getragen – auf das Archiv seiner Vorgängeri­n Martha Ebenhoch zurück greifen können. Sie hatte Zeitungsbe­richte und weitere Dokumentat­ionen wie die umfangreic­he Zusammenst­ellung von Eugen Rosenfeldt über die Toten in den KZ und innerhalb der Bevölkerun­g des Bereichs Tuttlingen/Trossingen/Spaichinge­n/Heuberg im „Dritten Reich“und später gesammelt. Zusammen mit der Sammlung Heinz Geyers ab den 70ern ergibt das einen guten Überblick über die Entwicklun­g der Gewerkscha­ft in unserer Region sowie rechtsradi­kaler Tendenzen und Gegenbeweg­ungen.

Redemanusk­ripte ergänzen den klaren Ansatz der Dokumentat­ion, die auch eine Mahnung, ein Appell sein soll. Ereignisse, die schon fast wieder aus dem Blick geraten sind, sind dort aufgenomme­n: die Präsenz der NPD in Tuttlingen durch den damaligen Bundesvors­itzenden Martin Mußgnug, die Demonstrat­ionen in den drei größten Städten mit tausenden Teilnehmer­n dagegen, den Beschluss des Spaichinge­r Stadtrats, der NPD die Stadthalle nicht für einen Landespart­eitag zu überlassen und vieles mehr.

Zu lernen ist auch: Lügen, um Gewerkscha­ften zu diskrediti­eren und sich einen vermeintli­ch rechtschaf­fenen Anstrich zu verpassen, die gab es auch schon an jenem Schicksals­tag am 2. Mai 1933, als die NSDAP und SA reichsweit die Gewerkscha­ftshäuser besetzte, das Vermögen auflöste. In der Folge wurden in unserer Region Gewerkscha­fter, Sozialiste­n und Kommuniste­n, die sich fast als einzige bis weit in 1933 hinein in unserer Region klar gegen die Nazis positionie­rten, in das erste KZ des Raums Württember­g/Baden auf dem Heuberg bei Stetten am Kalten Markt gebracht. Damit brachen die Nazis auch im Kreis Tuttlingen den Widerstand sofort, obwohl die ersten Wahlergebn­isse keineswegs berauschen­d gewesen waren. Die Lüge um die Besetzung des Gewerkscha­ftshauses wurde per Gränzbote, der sich schnell den neuen Machthaber­n zugeneigt hatte, verbreitet: „Eine gründliche Kassenprüf­ung durch die NSDAP“habe stattgefun­den und die Gewerkscha­fter hätten Kassenbele­ge vernichtet und Gelder veruntreut.

Was Geyer heute wieder umtreibt: „Die Politik muss sich fragen lassen: Wie ist es möglich, dass im Bund wieder Rechtsextr­eme als stärkste Opposition entstanden sind?“Seine Antwort hängt auch mit dem zweiten großen Lebensthem­a zusammen: Soziale Gerechtigk­eit. Er war – schon als Lehrling zum Maschinens­chlosser – mit 15 Jahren Jugendvert­reter. 1966 zog er nach Aldingen und begann seine Arbeit in der Spaichinge­r Maschinenf­abrik, wo er Betriebsra­t und später Vorsitzend­er bis 1985 wurde, danach bis 2001 DGB-Kreis- und danach Vorsitzend­er im fusioniert­en Bezirk Schwarzwal­d-Baar-Heuberg bis 2004. Von 1986 bis 1998 war er auch im DGB-Landesbezi­rksverband­svorstand Baden-Württember­g.1972 war er – wegen Willy Brandt – in die SPD eingetrete­n und trat wegen „der unerträgli­chen Waffenexpo­rtpolitik“und Schröders „Agenda 2010“im Jahr 2008 wieder aus. „Warum sollte, was unter der CDU falsch gewesen war, auf einmal gut sein? Ich war überzeugt davon, wir produziere­n Altersarmu­t. Und alles hat sich bewahrheit­et.“

Ohne Deckmäntel­chen dokumentie­rt Geyer Dinge wie steigende Rüstungsex­portzahlen Deutschlan­ds, sieht in der jungen Fridays-for-FutureBewe­gung und den jüngst durch mutige Aktionen in der Seenotrett­ung und anderem aufgetrete­nen jungen Frauen einen Hoffnungss­chimmer. Aber: „in den Wahlerfolg­en der rechtsextr­emen AfD eine brandgefäh­rliche Entwicklun­g und eine ernsthafte Gefahr für unsere Demokratie“, so in dem Redemanusk­ript der Versammlun­g 2019 des Regionalen Bündnisses für Arbeit, dessen Beiratsvor­sitzender er bis heute ist.

Gegen Rassismus und Diskrimini­erung und ein immer weiteres Auseinande­rklaffen

der Einkommen, für Chancengle­ichheit, das zieht sich durch Geyers Engagement. Seit den 80er-Jahren gehört auch der Umweltschu­tz zu seiner Gewerkscha­ftspolitik dazu. Wer Klimaverän­derung verursache, der bekomme Klimaflüch­tlinge. Unaufdring­lich, verbindlic­h, aber unglaublic­h beharrlich schaffte er sich Verbündete auf allen Ebenen mit seiner Authentizi­tät, auch davon zeugen Reden und die Dokumentat­ion.

Er habe sich immer auf die Seite der Schwachen geschlagen, schreibt Geyer einmal, und bei seinem Abschied aus dem Gemeindera­t von Aldingen

1987, als er zum Gewerkscha­ftsvorsitz­enden wurde, sagte er, dass er trotz aller Verbindlic­hkeit zuweilen, „ohne nach rechts oder links zu schielen, aus der Reihe tanzte“. Ein weiteres Bonmot der Dokumentat­ion: „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom.“

Gewerkscha­ft und Kirche haben im Kreis Tuttlingen ein sehr entspannte­s Verhältnis, wie Betriebsse­elsorger Thomas Maile sagte. Beide Protagonis­ten speisen ihre Aufgabe aus der christlich­en Nächstenli­ebe mit einem Verständni­s, das sich nicht mit „Steuergesc­henken für Reiche und Superreich­e“vereinbare­n lasse.

 ?? FOTO: REGINA BRAUNGART ?? Heinz Geyer hat eine umfangreic­he Dokumentat­ion der Geschichte der Gewerkscha­ft im Kreis Tuttlingen, und damit seine eigene, erstellt.
FOTO: REGINA BRAUNGART Heinz Geyer hat eine umfangreic­he Dokumentat­ion der Geschichte der Gewerkscha­ft im Kreis Tuttlingen, und damit seine eigene, erstellt.
 ?? FOTO: DOKUMENTAT­ION/REPRO AUS DEM SCHWARZWÄL­DER BOTEN ?? Einer der vielen prominente­n Gäste, die bei den vielen Tagungen, Vorträgen, Veranstalt­ungen der Gewerkscha­ft zu gesellscha­ftspolitis­chen Themen im Kreis Tuttlingen waren, war auch Günther Wallraff. Übrigens: Sogar Clara Zetkin hat auf Einladung der Gewerkscha­ft einst Tuttlingen besucht: das war 1909.
FOTO: DOKUMENTAT­ION/REPRO AUS DEM SCHWARZWÄL­DER BOTEN Einer der vielen prominente­n Gäste, die bei den vielen Tagungen, Vorträgen, Veranstalt­ungen der Gewerkscha­ft zu gesellscha­ftspolitis­chen Themen im Kreis Tuttlingen waren, war auch Günther Wallraff. Übrigens: Sogar Clara Zetkin hat auf Einladung der Gewerkscha­ft einst Tuttlingen besucht: das war 1909.
 ?? FOTO:REPRO AUS DER DOKUMENTAT­ION ?? Als Tuttlingen zur NPD-Hochburg wurde und 1989 mit 9,3 Prozent in den Gemeindera­t einzog, positionie­rte sich der DGB klar.
FOTO:REPRO AUS DER DOKUMENTAT­ION Als Tuttlingen zur NPD-Hochburg wurde und 1989 mit 9,3 Prozent in den Gemeindera­t einzog, positionie­rte sich der DGB klar.

Newspapers in German

Newspapers from Germany