Scientology wirbt in Tuttlingen
„Weg zum Glücklichsein“wird verteilt – Verfassungsschutz beobachtet Religionsgemeinschaft
TUTTLINGEN - Der Weg zum Glücklichsein? Während der Corona-Krise gibt es sicher Menschen, die mit ihren Alltagssorgen gerne wüssten, wie sie einen solchen Pfad beschreiten können. Doch bei der Broschüre, die nun in den Briefkästen rund um die Tuttlinger Karlschule gelandet ist, ist Vorsicht geboten. Die herausgebende Organisation wird vom baden-württembergischen Landesverfassungsschutz beobachtet.
„Der Weg zum Glücklichsein. Ein Leitfaden zu besserem Leben, der auf gesundem Menschenverstand beruht“. Das ist der Titel der kleinen, gut 70 Seiten dicken Broschüre, die nun an Tuttlinger Haushalte verteilt worden ist. Die Aussicht ist auch erst einmal zu verführerisch. Die angesprochene Person findet angeblich nur durch das Benutzen seines gesunden Menschenverstandes – und unter Einhaltung der Regeln – zu einem besseren Leben. Die Begründung, warum der Inhalt so wichtig ist, wird auch gleich mitgeliefert: Es geht um das eigene Überleben.
Dies sei durch das Fehlverhalten anderer Menschen bedroht. Deshalb soll das Buch auch gleich an andere Menschen verteilt werden. „Wählen Sie jemanden aus, dessen Handlungen einen (...) Einfluss auf Ihr eigenes Überleben haben könnten. (...). Schenken Sie dem Betreffenden das Buch. Bitten Sie ihn, es zu lesen. (..) Geben Sie ihm mehrere weitere Exemplare dieses Buches (...). Lassen Sie ihn diese Exemplare anderen schenken (...)“, heißt es in der Broschüre. Durch dieses Vorgehen würden die Personen „ihr eigenes Überlebenspotenzial und das der anderen enorm“steigern.
Diese Anweisungen stammen von Lafayette Ronald Hubbard, dem 1986 verstorbenen Gründer von Scientology. Dies wird beim Blick in das Impressum klar. Dort ist die L. Ron Hubbard Library als Herausgeber angegeben. Und genau dies sollte man wissen, wenn man sich mit solchen Postwurfsendungen beschäftigen möchte, findet Sarah Pohl. „Man sollte ins Impressum schauen, um welche Gruppe es sich handelt, damit man auch grob abschätzen kann, in welche Richtung es geht“, rät die Leiterin von Zebra-BW – der Zentralen Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen in Freiburg. Generell sei es wegen der Religionsfreiheit den Glaubensgemeinschaften nicht verboten, ihre Thesen zu verteilen, genauso wenig wie, dass sich Menschen damit beschäftigen.
Dies bestätigt auch die Stadt Tuttlingen. „Das ist in etwa wie ein Werbeprospekt. Solange kein Hinweis auf dem Briefkasten steht, wie Werbung verboten, dürfen die Verteiler den Briefkasten vollstopfen“, sagt Stadtsprecher Arno Specht. Generell sei man bei der Stadt aber nicht erfreut, wenn eine Organisation, die in
Baden-Württemberg vom Verfassungsschutz beobachtet werde, offensiv Werbung mache. „Eine Handhabe haben wir dagegen aber nicht. Scientology ist schließlich nicht verboten“, sagt Specht.
Weil „alternative Religionen“wie Scientology nicht grundsätzlich verboten werden können, setzt die Beratungsstelle darauf, „die Menschen zu befähigen, gute Entscheidungen zu treffen und selbst unterscheiden zu können. Bevor Menschen auf Kontaktangebote oder Einladungen eingehen, sollten sie sich absichern, wer der Veranstalter ist und nicht einfach irgendwo hingehen“, sagt Pohl. Für den Landesverfassungsschutz von Baden-Württemberg steht im Fall von Scientology fest, dass deren „Programm mit der Werteordnung des Grundgesetzes unvereinbar“ist.
Die Scientology-Organisation (SO), die seit 1997 vom Bund und den Ländern beobachtet wird, strebe laut dem neuesten Verfassungsschutzbericht ein „totalitäres gesellschaftliches System“an. Grundrechte wie Menschenwürde, Meinungs- und Pressefreiheit sowie das Demokratieund das Rechtsstaatsprinzip wären laut dem Landesamt „massiv eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt“. Von den Mitgliedern würde „bedingungslose Unterordnung und Gehorsam“gefordert. Mitglieder an der Basis müssten fortwährend finanzielle Opfer bringen.
Ein Aktionsschwerpunkt von SO ist laut dem Verfassungsschutzbericht in Baden-Württemberg. Scientology, das laut dem Bericht seit 1997 ein Drittel der Mitglieder in Deutschland verloren haben soll, verfolge demzufolge eine „langfristige Strategie zur Ausdehnung“. Kernpunkte seien die Verbreitung der Ideologie und die Werbung neuer Mitglieder. Ob dies über die Verteilung der Broschüre gelingen kann, stellt Pohl in Frage. „Das führt meist nicht zu einer hohen Rekrutierung.“Zwar könne man die These aufstellen, dass in Corona-Zeiten die Verunsicherung die Menschen für Angebote von Glaubensgemeinschaften empfänglich machen würde. Sie habe durch Anfragen an ihre Beratungsstelle eher die Erfahrung gemacht, dass sich die Menschen mehr mit ihren Alltagssorgen beschäftigen als für weltanschauliche Fragen interessieren würden. „Bei vielen ist es aber auch Geschmackssache, ob sie sich die Schreiben anschauen. Manche machen es aus Neugier, manche tun es gleich weg.“
Dass man sich einer Glaubensgemeinschaft anschließe, liege auch nicht an der Ideologie selbst, erklärt Pohl. Bei dem Betroffenen müssten auch die individuellen Umstände passen. Ihre Bitte ist: Wer sich nicht sicher ist, von wem ein vermeintliches Hilfsangebot stammt, soll sich doch bei der Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen melden.