„Heimat ist dort, wo ich mich nicht erklären muss“
Der Lyriker José F. A. Oliver kommt zu einer Lesung nach Tuttlingen
TUTTLINGEN - Als Anfang August die Tuttlinger Literaturzeitschrift „Das Netz“wiederbelebt wurde, fand sich neben Texten von jungen Autoren auch ein echtes LyrikSchwergewicht wieder: José F. A. Oliver unterstützte das Projekt mit zwei unveröffentlichten Texten, obwohl der Hausacher auf eine extrem bewegte Autorenkarriere blicken kann.
Oliver war Gastprofessor in Cambridge, Stadtschreiber in Kairo, wurde mit dem Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet. Am Mittwoch, 23. September, wird Oliver bei der zweiten Das-Netz-Lesung in der Kischte Tuttlingen lesen - nur einer von unzähligen Gründen, warum sich Jeremias Heppeler mit ihm unterhalten hat.
Herr Oliver, warum haben Sie sich entschieden „Das Netz“zu unterstützen?
Es ist mir ein Herzensanliegen, mich mit meinen jungen Dichterkollegen zu solidarisieren, indem ich Präsenz zeige. Ich finde es großartig, dass neue poetische Räume geschaffen werden, die Traditionen in sich tragen. Damit wird eine Geschichte, wie die des „Netzes“ein Teil unseres heutigen künstlerischen Schaffens.
Ihre Vita verrät, dass sie immer wieder gezielt junge Autoren fördern und auch mit Schülern arbeiten...
Wenn wir Älteren das nicht tun, wer dann? Dieser künstlerische und gesellschaftliche Dialog zwischen den Generationen muss unser gemeinsamer Kompass bleiben. Mich macht es glücklich, die Talente junger Menschen zu fördern und ihnen, soweit es mir möglich ist, Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten.
Sie selbst haben in Hausach den Leselenz etabliert– was waren die entscheidenden Schritte dazu?
Es gibt, so denke ich, zwei Grundcharaktere von Menschen auf dem Land oder in der sogenannten Provinz, diejenigen, die fortziehen und diejenigen, die bleiben. Ich habe mich schon in jungen Jahren dafür entschieden, zu bleiben und all das zu gründen, was mir fehlte. U.a. die
Literatur und ein Festival.
Wie wichtig ist es Kunst und Kultur auch in der vermeintlichen Provinz zu leben?
Provinz geht durch den Kopf und durch das Herz. Es gibt provinzielle Augenblicke in den Metropolen und es gibt Welthaltiges auf dem Dorf und in den Kleinstädten. Das Poetische ist überall zuhause. Man muss nur die Orte dafür schaffen. Überall.
Welchen Heimatbegriff haben Sie über die Jahre entwickelt - und wie schmerzhaft war der Weg dahin? Jeder Weg ist schmerzhaft. Ich habe eine Schollenheimat, die teilen sich der Schwarzwald und Andalusien. Mein grünes und mein blaues Meer. Und dann gibt es eine Menschenheimat und die ist überall. Meine Heimat ist überall dort, wo ich mich nicht erklären muss.
Wie fühlt es sich an, wenn Sie heute ihre älteren Texte lesen?
Wunderbar und ich staune. Ich bereue nichts, was ich geschrieben habe. Ohne den ersten Buchstaben in der Schule wäre das erste Wort nicht entstanden; ohne die Worte keine Sätze ... ohne das Gedicht mit 14, nicht das mit 16 oder 18 oder 25 oder 40, usw. Es ist ein kontinuierliches Weiterschreiben. Das ist schön und gut und wichtig!
Wie muss Lyrik im Jahr 2020 aussehen?
Kompromisslos. Poetisch. Politisch. Perspektivisch und doch absichtslos. Und sie muss mit der Würde der Dichtenden eins sein. Jedes Gedicht sollte ein „Nichtsdestotrotz“und ein „Jetzt-erst-Recht! in sich kristallisieren.