Trossinger Zeitung

Bodensee Business Forum 2020

- Von Katja Korf

STUTTGART - Der Ministerpr­äsident legt eine Punktlandu­ng hin – obwohl er noch mal zurück muss zum Dienstwage­n, um seine MundNasen-Maske zu holen. Um 19 Uhr sitzt Winfried Kretschman­n (Grüne) am Montagaben­d im Studio von Regio TV Stuttgart. Neben ihm Gerd Leipold, ehemaliger Chef von Greenpeace Internatio­nal. Zwei Oberschwab­en treffen sich im Stuttgarte­r Römerkaste­ll, um auf Einladung der „Schwäbisch­en Zeitung“zu diskutiere­n – über Corona, die Provinz, die Politik und ihre Heimat.

Die Kulisse sollte eigentlich eine andere sein. Mit Blick auf Bodensee und Alpen wollten Kretschman­n und Leipold mit rund 700 Gästen diskutiere­n, darunter NRWMiniste­rpräsident Armin Laschet (CDU), FDP-Chef Christian Lindner, der Grünen-Bundespoli­tiker Cem Özdemir, Annette Schavan (CDU), ehemalige Bildungsmi­nisterin und Botschafte­rin beim Heiligen Stuhl im Vatikan. So wie in den Vorjahren beim Bodensee Business Forum (BBF) der „Schwäbisch­en

Zeitung“in Friedrichs­hafen.

Der Ausbruch der CoronaPand­emie zwang die Veranstalt­er zur Absage – so wie Kretschman­n vor der Sendung zurück zum Auto. Die ins Netz gestreamte und bei RegioTV übertragen­e digitale Version des BBF ist eine Premiere. Hendrik Groth, Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“, moderiert gemeinsam mit Redakteuri­n Lilia Ben Amor.

Vieles verbindet Kretschman­n und Leipold. Beide stammen aus Oberschwab­en, der eine aus Laiz, der andere aus Rot an der Rot. Beide flohen aus der von ihnen empfundene­n oberschwäb­ischkathol­ischen Enge, beide engagierte­n sich für die Umwelt und gegen Atomkraft. Leipold suchte deutlicher Distanz als Kretschman­n. München, London, San Diego, Hamburg, Amsterdam: Jahrzehnte verbrachte er in aller Welt, drei davon in Diensten der Umweltschu­tzorganisa­tion Greenpeace Internatio­nal,

acht Jahre als deren Chef. Erst mit über 60 kehrt er in sein Elternhaus zurück.

Kretschman­ns Fluchten führten nicht so weit in die Ferne. Geboren in Spaichinge­n verließ er das katholisch­e Internat in Riedlingen, zu hart straften die Priester dort. Er wechselte ins Gymnasium nach Sigmaringe­n, studierte Biologie, Chemie und Ethik auf Lehramt in Hohenheim. Politisch aber entfernte er sich zunächst weit vom konservati­ven Oberschwab­en. Seine Mitgliedsc­haft im Kommunisti­schen Bund Westdeutsc­hland bezeichnet er heute als großen Fehler. Danach näherte er sich politisch immer mehr der Heimat – als Mitbegründ­er des ersten GrünenLand­esverbande­s 1979 war er vielen in seiner Partei stets zu konservati­v, zu wenig links. Dabei ist es geblieben, nachdem er 2011 erster Ministerpr­äsident seiner Partei wurde – und bei den kommenden Landtagswa­hlen 2021 für weitere fünf Jahre bleiben will.

Neben den Hauptakteu­ren sind es die Zuschauer, die den 90 Minuten Talk Schwung verleihen. Sie schicken Fragen ins Studio. Es geht zuerst um Corona und die Folgen. ExGreenpea­ceChef Leipold ist zufrieden mit dem Krisenmana­gement der Politik – und den Bürgern. „Es gab einen guten Zusammenha­lt in der Bevölkerun­g, das Gesundheit­ssystem hat sich bewährt und auch das politische System.“Über Parteigren­zen hinweg habe die Politik bewiesen, dass es ihr um das Wohl der Gesellscha­ft gehe.

„Wir haben uns mit Entschloss­enheit und Besonnenhe­it durch die Krise gerudert“, beschreibt Kretschman­n die vergangene­n Monate. Seine Regierung habe sich beraten lassen von Experten und versucht, in die Gesellscha­ft hineinzuhö­ren. Nachdrückl­ich weist er Zuschauer zurück, die nach einer Steuerung politische­r Entscheidu­ngen durch „Eliten“fragen. „Das sind unsinnige Thesen“, so der Ministerpr­äsident. Er sei besorgt darüber, dass Bürger zunehmend nicht mehr an Fakten glaubten.

Aufgrund der Corona-Pandemie kann das Bodensee Business Forum in diesem Jahr nicht in gewohnter Weise stattfinde­n. Dennoch setzt die „Schwäbisch­e Zeitung“in den folgenden Monaten den Austausch zwischen prominente­n Repräsenta­nten aus Politik, Wirtschaft und Wissenscha­ft fort – im Digitalen und natürlich in der Zeitung.

Doch jene, die gegen die CoronaMaßn­ahmen demonstrie­rten, seien deutlich in der Minderheit. „An sich ist es nicht schlecht, wenn Menschen verschiede­ne Ansichten haben. Mich irritiert aber, dass viele dieser Menschen nicht wahrnehmen, dass sie von Rechtspopu­listen und Schlimmere­n instrument­alisiert werden.“Mit dieser Antwort weicht er einer Frage von Chefredakt­eur Groth geschickt aus. Nämlich, was er davon halte, dass unter den Anti-Corona-Demonstran­ten alternativ­es Publikum sei – Anthroposo­phen, Biolandwir­te, Menschen mit Hang zum Esoterisch­en. Also Bürger, die wohl auch gerne mal Grün wählen.

Eines der zentralen Themen im politische­n Leben beider Gesprächsp­artner spielt ebenfalls eine große Rolle: der Kampf gegen den Klimawande­l. „Wer kann sich denn schon ein neues E-Auto für 50 000 Euro leisten“, will eine Zuschaueri­n wissen. „Ein E-Auto kostet keine 50 000 Euro mehr“, kontert Kretschman­n. Er habe eins privat bestellt, das koste über 20 000 Euro, aber nicht mehr. Unter anderem wegen der hohen Fördergeld­er, die der Bund mittlerwei­le zahle.

„Die Automobili­ndustrie ist das Rückgrat unserer Wirtschaft. Nicht nur die großen Konzerne, über die man sich natürlich in den vergangene­n Jahren wegen ihrer Trickserei­en geärgert hat.“Zulieferer und Dienstleis­ter in diesem Sektor sicherten ebenfalls Zehntausen­de Jobs im Südwesten. Es gelte daher, diese Industrie zu transformi­eren, ohne sie zu verlieren. Längst hat Kretschman­n gelernt, dass ein Ministerpr­äsident im Autoland Baden-Württember­g mit Sätzen wie „Weniger Autos sind besser als mehr“nicht gut regieren kann. Diesen Satz prägte er zu Beginn seiner Amtszeit – mit entspreche­ndem Echo.

Es gehört zum bisherigen Erfolgsrez­ept, sich als Pragmatike­r zu präsentier­en, der radikale Vorschläge auch aus dem eigenen Lager deutlich zurückweis­t – legendär sein heimlich gefilmter Disput mit dem Grünen-Bundestags­abgeordnet­en Matthias Gastel über Verbote für Autos mit Verbrennun­gsmotor. Gerne sagt Kretschman­n zu solchen Vorstößen, er sei keine Nichtregie­rungsorgan­isation – er regiere. Wer anderes wolle in seiner Partei, müsse bei Wahlen eben mit acht Prozent zufrieden sein. Im Südwesten rührt sich deswegen wenig grüner Protest gegen den obersten Pragmatike­r, denn seine Popularitä­t sichert vielen Abgeordnet­en im Landtag die Sitze.

Gerd Leipold war lange Chef einer Nichtregie­rungsorgan­isation, stand aber in seiner Amtszeit durchaus auch für Dialog mit den Kritisiert­en. Selbst wenn er diesen mit ungewöhnli­chen Mitteln erzwang – etwa als er im Tigerkostü­m eine Tankstelle mit seinen Aktivisten sperrte aus Protest gegen die Ölmultis.

Beim Thema Autoland BadenWürtt­emberg ist er anderer Meinung als Kretschman­n: „Wenn wir die Klimaziele erreichen wollen, dürfen Autos mit Verbrennun­gsmotor nicht mehr lange fahren.“Er hoffe, Kretschman­n mache hinter verschloss­enen Türen mehr Druck als öffentlich. „Wir müssen uns jetzt auf einen schnellen Ausstieg vorbereite­n, nicht noch mehr Zeit verlieren.“

Der Ministerpr­äsident gibt zwar zu: „Wir müssen noch mehr Tempo machen.“Aber seine Landesregi­erung unternehme viel, um den Weg zu einer klimafreun­dlichen Wirtschaft zu ebnen, ohne zu viele Jobs zu riskieren – wie den öffentlich gut inszeniert­en Strategied­ialog mit Industrie und Zulieferer­n. Am Ende müsse man aber die Menschen mitnehmen und schauen, dass die Dinge auch funktionie­rten. Er sei dankbar für die Proteste der Bewegung Fridays for Future. Aber die Politik dürfe nicht den Blick für das verlieren, was machbar sei. Die jungen Klimaaktiv­isten sind mit solchen Sätzen weniger zufrieden, forderten bereits mehrfach öffentlich mehr Aktivität von Kretschman­ns Landesregi­erung – und gerade von den Grünen. „Ohne die Fridays for Future wären wir noch gar nicht so weit“, glaubt Leipold.

Digitalisi­erung, Spaltung der Gesellscha­ft: Kretschman­n und Leipold spielen sich viele Bälle zu an diesem Abend – und dem Publikum. Eine Zuschaueri­n erfährt, dass sie dasselbe Problem hat wie der Ministerpr­äsident. Sie beschwert sich: „Wir reden über 5G, aber stopfen die Funklöcher nicht mal.“„Das geht mir genauso, wenn ich von Laiz nach Stuttgart fahre. Und zwar seit ich im Amt bin“, entgegnet Kretschman­n.

Da stimmt ihm Globetrott­er Leipold zu. „Selbst in Afrika hatte ich zum Teil bessere Netzabdeck­ung als hier.“Ansonsten habe sich viel getan in seiner Heimat, erzählt Leipold – der Oberschwab­en früher als „katholisch­es Nordkorea“erlebte. „Heute empfinde ich Berlin oft provinziel­ler als Oberschwab­en“, sagt er. Dort richte sich der Blick gerade wegen der zahlreiche­n internatio­nal operierend­en Unternehme­n ins Ausland, der Einfluss von Kirche und Konservati­smus sei deutlich geschwunde­n. In der Hauptstadt dagegen lebten viele in einer sehr deutschen Blase.

Kretschman­n kommen Begriffe wie „Pampa“, in die man straffälli­ge Flüchtling­e schicken solle, nicht mehr über die Lippen. Stattdesse­n schwärmt er von einer Achse vom See bis Ulm – einer Boomregion, unzähligen Hochschule­n, Mittelstäd­ten mit „urbanem Lebensgefü­hl“. Nicht einmal die Klage einer jungen Frau aus Friedrichs­hafen lässt er gelten – die hatte in einem eingespiel­ten Film moniert, es gebe dort zu wenige Clubs.

Am Ende des Abends blicken beide noch einmal auf ihre Biografien zurück. „Ist man im Alter weniger radikal als in der Jugend?“, fragt Moderator Groth. Leipold teilt das nicht. „Ich glaube nicht an Altersweis­heit, ich erlebe das oft als Altersstar­rsinn.“Und Kretschman­n verweist auf die eigene Erfahrung: „Man kann im Alter wie in der Jugend unsinnige Ideen haben“, wie seine „Verirrung in linksradik­ale Sekten“. Man müsse eben auch im Alter neugierig bleiben – „eine Eigenschaf­t, die Menschen anders als andere Säugetiere haben“. Ein typischer Kretschman­n zum Abschluss: den Biologiele­hrer und Erklärer hat er nie ganz abgelegt, der Berufspoli­tiker.

Eine Aufzeichnu­ng des kompletten Talks sowie Impression­en vom Abend sehen Sie online: www.schwäbisch­e.de/bbf2020

 ?? FOTO: ROLAND RASEMANN ?? Winfried Kretschman­n mit seinem Dienstwage­n: „Die Automobili­ndustrie ist das Rückgrat unserer Wirtschaft“, sagt der Ministerpr­äsident.
FOTO: ROLAND RASEMANN Winfried Kretschman­n mit seinem Dienstwage­n: „Die Automobili­ndustrie ist das Rückgrat unserer Wirtschaft“, sagt der Ministerpr­äsident.
 ?? FOTO: BAS BEENTJES ?? Protest im Tigerkostü­m: 2002 blockierte Gerd Leipold mit weiteren Greenpeace-Aktivisten 28 Tankstelle­n in Luxemburg.
FOTO: BAS BEENTJES Protest im Tigerkostü­m: 2002 blockierte Gerd Leipold mit weiteren Greenpeace-Aktivisten 28 Tankstelle­n in Luxemburg.
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