Trossinger Zeitung

„Wir dürfen nicht mehr warten, bis die ganze EU ja sagt“

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RAVENSBURG - Die Bundestags­abgeordnet­e Hilde Mattheis (SPD) verschafft sich derzeit auf der griechisch­en Insel Lesbos einen Überblick über die Lage der dort untergebra­chten Flüchtling­e. Simon Schwörer hat mit ihr über ihre Eindrücke gesprochen.

Frau Mattheis, wie haben Sie die derzeitige Situation der Flüchtling­e erlebt?

Ich habe bereits Gespräche mit Nichtregie­rungsorgan­isationen und Hilfsproje­kten geführt, das abgebrannt­e Lager Moria und das neue kleine Camp angeschaut. Die Lage ist wirklich bedrückend und beschämend. Die Bedingunge­n forcieren geradezu eine Ausbreitun­g des Coronaviru­s. In dem neuen Camp wurden Riesenzelt­e für alleinsteh­ende Männer aufgebaut, die in Dreier-Stockbette­n eng nebeneinan­der leben. Die Familienze­lte sind auch nicht besser. Dort wohnen unterschie­dlichste Familien auf engstem Raum beieinande­r. Andere Familien mit kleinen Kindern sind obdachlos. Außerdem ist bei den Corona-Testungen nicht klar, wie hoch die Fehlerquot­e ist. Es wird einfach getestet, um überhaupt etwas zu unternehme­n.

Das heißt, die Lage hat sich nicht wesentlich verbessert?

Da wurden einfach Zelte hingestell­t, um etwas zu tun, statt die Menschen auf das Festland zu verteilen. Das neue Lager liegt direkt am Wasser auf einer ungeschütz­ten Fläche. Alle erfahrenen Helfer vor Ort sagen mir, dass dadurch der Untergrund des Lagers beim ersten Sturm innerhalb von Stunden völlig aufgeweich­t ist. Das Lager ist eine Lösung, die mit tollen weißen Zelten vielleicht nach außen gut wirkt. Es ist allerdings viel zu klein, an die Zustände im Winter will ich gar nicht denken.

Was ist aus dem Camp Moria geworden?

Dort ist die Lage in meinen Augen noch viel schwierige­r. Nach wie vor leben im abgebrannt­en Camp Moria

Hunderte Menschen. Ich habe viele Menschen gesehen, die zusammen mit ihren Kindern im Schutt nach Brauchbare­m suchen und unter den Olivenbäum­en kampieren. Das Lager wird zwar von der Polizei bewacht, die Flüchtling­e werden aber völlig alleingela­ssen. Die Menschen sind hochgradig gefrustet, verängstig­t und traumatisi­ert – eine explosive Mischung.

Was würde den geflüchtet­en Menschen – und auch den Griechen jetzt helfen?

Europa muss tätig werden. Mit Blick auf Deutschlan­d: Es gibt rund 170 Städte, die Flüchtling­e aufnehmen wollen. Dieses Potenzial sollten wir nutzen. Ich will bei diesem Überbietun­gswettbewe­rb an Betroffenh­eitsbekund­ungen nicht mehr mitmachen, sondern praktisch handeln.

Was sagen Sie mit Blick auf die EU-Reform-Pläne des DublinAbko­mmens?

Wir dürfen nicht mehr warten, bis die ganze EU ja sagt. Wir müssen stattdesse­n jetzt die Unterstütz­ung der Willigen einfordern. Für Deutschlan­d bedeutet das: Wir müssen endlich das machen, wofür sich viele Kommunalpo­litiker bereit erklärt haben und was derzeit noch an der Blockade von Horst Seehofer scheitert. Auf Lesbos herrschen unwürdigst­e Verhältnis­se für die Menschen. Da können wir Parlamenta­rier noch zehnmal dorthin reisen, wenn sich danach nichts ändert. Ich glaube, jetzt hilft nur noch, wenn auch eine große Zahl von Bürgermeis­tern nach Athen fährt und Geflüchtet­e einlädt. Gegen diese Macht der Bilder kommen weder Minister Seehofer noch die griechisch­e Regierung an. Es muss endlich etwas passieren.

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FOTO: D. DRESCHER Hilde Mattheis

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