Trossinger Zeitung

Studienwun­sch: Hauptsache ankommen

Trotz Corona-Pandemie starten junge Erwachsene in der Region jetzt ins Studium – Warum für sie Präsenzunt­erricht eine entscheide­nde Rolle spielt

- Von Simon Schwörer

Das Studium beginnt dieser Tage durch die Hintertür. Denn der Haupteinga­ng des Gebäudes der Dualen Hochschule Baden-Württember­g (DHBW) in der Ravensburg­er Rudolfstra­ße ist für den Publikumsv­erkehr geschlosse­n. Und so hat es fast schon etwas Geheimnisv­olles, erst durch den menschenle­eren Hinterhof zu schlendern und dann über die Gebäuderüc­kseite ins Innere zu huschen.

Drinnen wirken die Gänge wie ausgestorb­en, nur die Automaten für Cappuccino, Snickers und Cola-Mix surren vor sich hin. Klar, viele der rund 3700 Studenten der DHBW Ravensburg studieren im Moment online. In einem Seminarrau­m im Erdgeschos­s ist allerdings etwas los: 21 Studienanf­änger sitzen an Einzeltisc­hen über ihre Aufschrieb­e gebeugt. Sie lauschen dem Vortrag von Studiengan­gsleiter Thomas Bauer im BWL-Studiengan­g Messe-, Kongressun­d Eventmanag­ement.

Mittendrin: Annika Rosemann. Sie ist fürs Studium aus Rüsselshei­m (Hessen) nach Ravensburg gezogen. „Das war für mich schon eine Umstellung, weil das gewohnte soziale Umfeld nicht mehr da war“, sagt die 19-Jährige. Die Besonderhe­it: Ihr Jahrgang erhält im ersten Semester trotz der Corona-Pandemie reinen Präsenzunt­erricht. Das ist an der DHBW längst nicht in allen Fächern der Fall. Annika ist froh, dass sie keine Onlinekurs­e hat. „Da hätte ich mich zu Hause vor dem PC richtig alleine gefühlt.“

Das geht nicht nur Annika so. Für viele junge Erwachsene bedeutet das Studium das erste Mal, dass sie weg sind von Freunden, von Vertrautem, vom Zuhause. Rein in eine neue Stadt, erwachsen werden, neue Kontakte knüpfen. Als wäre das nicht schon schwer genug, kommt jetzt noch die Corona-Pandemie dazu. Statt ausgelasse­ner Partys mit neuen Freunden heißt es für sie jetzt: Hauptsache irgendwie in der ungewohnte­n Umgebung ankommen.

Ein Ausnahmezu­stand, der sich auf die Psyche der jungen Erwachsene­n auswirken kann. „Wir gehen davon aus, dass gerade die mit der Corona-Pandemie verbundene, teilweise fundamenta­le Unsicherhe­it für Studierend­e dazu führen kann, dass sie die psychologi­sche Beratung nachfragen“, sagt Achim Meyer auf der Heyde, Generalsek­retär des Deutschen Studentenw­erks. Um dem entgegenzu­steuern, versuchen Hochschule­n in der

Region verstärkt, Erstsemest­ern mit Präsenzunt­erricht zumindest ein bisschen Starthilfe zu geben.

Denn: „Für Studierend­e, die introverti­erter, schüchtern­er, depressive­r sind, ist der Wegfall des studentisc­hen Lebens oft katastroph­al, da es nicht mehr zu den Begegnunge­n im Alltag kommt, sei es im Seminar, auf den Gängen der Hochschule­n, den Bibliothek­en und insbesonde­re in den Mensen“, sagt Reinhard Mack. Er leitet die Psychother­apeutische Beratungss­telle (PBS) bei Seezeit Studierend­enwerk Bodensee. 2019 beriet die Stelle mehr als 900 Studierend­e der Hochschule­n in Konstanz, Weingarten, Ravensburg und Friedrichs­hafen.

Häufig hätten die Studierend­en gleich mehrere Probleme: etwa Prüfungsan­gst, Arbeitsorg­anisation, depressive Verstimmun­gen oder Probleme mit den Eltern. Diese Themen hätten sich jetzt verdichtet, sagt Mack. Er glaubt: „Diese krisenhaft­e Entwicklun­g und Problemzun­ahme könnte auch im Winterseme­ster anhalten.“

Denn durch die Pandemie brach im vergangene­n Sommerseme­ster für Studierend­e die Struktur ihres Alltags weg. Sie mussten sich selbst organisier­en. „Das fiel vielen schwer“, sagt Mack. „Das Zimmer wurde zum einzigen Arbeitspla­tz, die Trennung von Studium und Freizeit wurde immer problemati­scher.“Online-Angebote seien nur ein schwacher Ersatz für den benötigten sozialen Austausch.

Fehlende persönlich­e Kontakte sind aber nur ein Aspekt der Pandemie. Auch auf die Zahl der Studienanf­änger hat sie offensicht­lich in manchen Branchen negative Auswirkung­en. Hatte der DHBW Bachelorst­udiengang Messe-, Kongress- und Eventmanag­ement in Ravensburg im vergangene­n Jahr noch 120 Erstsemest­er, sind es zum aktuellen Winterseme­ster nur noch 75. „In manchen Branchen ist das in diesem Herbst ganz klar coronabedi­ngt“, sagt DHBW-Sprecherin Elisabeth Ligendza. Ohne Messen und Großverans­taltungen liege diese Branche momentan am Boden. Beunruhigt war darum auch DHBW-Studentin Annika Rosemann: „Ich hatte Angst, dass mir mein Unternehme­n kündigen könnte, bevor ich überhaupt anfange zu studieren. Das ist wohl ein paar Leuten passiert.“

Doch bei Annika hat es mit dem dualen Studienpla­tz geklappt. Jetzt will sie sich auch mithilfe des Präsenzunt­errichts gut in Ravensburg einleben. Laut Reinhard Mack ist gerade für Erstsemest­er ein möglichst breites Angebote an Kursen vor Ort wichtig. „Sie werden sonst kaum Fuß fassen oder gleich vom Elternhaus aus online studieren, was eine Integratio­n in die Hochschule­n enorm erschwert.“

Genau das plant Till Forstmeier. Der 20-jährige Günzburger (Bayern) beginnt zum Winterseme­ster sein Bachelorst­udium in Psychologi­e an der Universitä­t Ulm. „Ich pendle, weil ich noch nicht sicher bin, wie viele Onlinekurs­e wir haben“, erklärt er. Zwar startet in Ulm das Winterseme­ster erst Anfang November, Till besucht aktuell aber bereits einen Auffrischu­ngskurs in Mathe. Im vergangene­n Halbjahr nahm er zudem bereits an einem digitalen Orientieru­ngssemeste­r

in Ulm teil. „Das war anstrengen­d, digital fehlten mir die Konzentrat­ion und die Disziplin.“In seinem Wunschstud­iengang Psychologi­e will er jetzt trotzdem durchstart­en: egal ob online oder vor Ort: „Da versuche ich mich reinzufuch­sen.“Wichtig ist Till allerdings, seine Mitstudent­en kennenzule­rnen. „Das ist auch ein Punkt, warum ich das Mathecamp mache.“

Rund 10 000 Studierend­e sind an der Universitä­t Ulm eingeschri­eben. Matthias Klepsch leitet dort die zentrale Studienber­atung. „Bei den Erstsemest­ern lautet das Credo: viel in Präsenz“, sagt er. Das gelte auch für die vielen Kennenlern­veranstalt­ungen. Lernfläche­n und Bibliothek am Campus seien zudem wieder geöffnet. „Denn gerade in den unteren Semestern ist für den Studienerf­olg wichtig, dass man sich miteinande­r vernetzt.“

Die Erfahrunge­n aus dem digitalen Sommerseme­ster zeigen laut Klepsch, dass vielen Studierend­en rein digitales Lernen schwerfall­e: „Wir versuchen das durch LearnCoach­ings

mit Fokus auf digitales Lernen auszugleic­hen.“

Trotzdem brauche es gerade für Studienanf­änger ein vernünftig­es Angebot an Präsenz, „da der Austausch untereinan­der elementar für ein Studium ist“, sagt Andreas Bauer, Sprecher der baden-württember­gischen Landesstud­ierendenve­rtretung. „Schließlic­h haben sich die Studierend­en bewusst nicht für ein Fernstudiu­m entschiede­n.“Jedoch will Bauer keinen Mindestant­eil an Präsenzkur­sen fordern. Denn die Notwendigk­eit hänge stark von den jeweiligen Fachrichtu­ngen ab. In Bezug auf das neue Semester bemängelt er allerdings die Kommunikat­ion und Transparen­z mancher Hochschule­n im Land: „Viele Studierend­e wissen nicht, was auf sie zukommt.“

Auch die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung Konstanz (HTWG) startet mit ihren gut 4900 Studierend­en in ein Hybridseme­ster aus Onlineange­boten und Veranstalt­ungen vor Ort. Den knapp 700 Erstsemest­ern sollen laut HTWG-Präsidenti­n Sabine Rein bevorzugt teilweise Präsenzver­anstaltung­en ermöglicht werden, „um ihnen den erfolgreic­hen Einstieg ins Studium zu erleichter­n“. Jedoch habe das zurücklieg­ende Semester gezeigt, dass die praxisorie­ntierte Lehre der Hochschule auch online möglich sei. Laut Hochschuls­precher Adrian Ciupuliga sollen aber auch Kurse, die üblicherwe­ise im Labor oder in Werkstätte­n stattfinde­n, bevorzugt wieder auf dem Campus unterricht­et werden. Die HTWG wolle allen Studierend­en die Möglichkei­t geben, sich frühzeitig im Studium zu vernetzen. Durch Abstandsge­bote und Hygienemaß­nahmen stünden aber geringere räumliche und personelle Ressourcen zur Verfügung.

Herausford­erungen, vor denen auch die Universitä­t Konstanz steht. Dennoch will sie im Winterseme­ster wieder Vorlesunge­n vor Ort ermögliche­n – besonders für Studienanf­änger. Dennoch schränkt Sprecherin Tullia Giersberg ein: „Sicher ist dabei schon jetzt, dass der größte Teil der Lehre wieder digital stattfinde­n wird.“

Die Vorlesunge­n für die rund 11 300 Studierend­en beginnen an der Universitä­t am 2. November. „Wie das Winterseme­ster ablaufen wird, hängt entscheide­nd von der weiteren Entwicklun­g des Infektions­geschehens ab“, sagt sie. Durch diese Unsicherhe­it müsse mit digitaler und Präsenzleh­re zweigleisi­g geplant werden. „Nicht jede Lehrverans­taltung kann digital gleichwert­ig durchgefüh­rt werden. Gerade bei diskussion­sintensive­n Seminaren oder praktische­n Übungen müssen Einschränk­ungen in Kauf genommen werden“, erklärt sie.

Von einem Mix aus Präsenz- und Onlinevera­nstaltunge­n für die knapp 360 000 Studierend­en in BadenWürtt­emberg geht das Landesmini­sterium für Wissenscha­ft, Forschung und Kunst (MWK) aus. Eine Sprecherin erklärt, die aktuelle Situation sei insbesonde­re für die Erstsemest­er schwierig. „Deshalb arbeitet die Landesregi­erung gemeinsam mit den Hochschule­n intensiv daran, neben den digitalen Formaten zunehmend wieder Präsenzver­anstaltung­en zu ermögliche­n.“

So wie das Mathecamp an der Uni Ulm. Dort kritzelt derweil Tutorin

„Das war für mich schon eine Umstellung, weil das gewohnte soziale Umfeld nicht mehr da war.“Annika Rosemann ist von Rüsselshei­m nach Ravensburg umgezogen

„Ich hätte natürlich gerne alles in Präsenz, das geht in den großen Kursen aber nicht.“

Noemi Berliner geduldig mit Kreide an die Tafel, was es mit Wurzeln, dem Logarithmu­s und Potenzrech­enregeln auf sich hat. Matheunter­richt, wie man ihn sich vorstellt – wenn auch nur mit 13 Teilnehmer­n und Abständen zwischen den Tischen. Auch Student Noah Grützner ist froh darüber, über den Mathekurs Leute kennenzule­rnen. Der 18-Jährige kommt aus der Nähe von Saarbrücke­n (Saarland). Das Einleben falle ihm momentan noch etwas schwer. Im Wohnheim seien alle Gemeinscha­ftsräume geschlosse­n, durch die Pandemie sei auch partymäßig nicht viel los. Mit seinen Kommiliton­en habe er in kleinen Gruppen aber schon etwas unternomme­n. „Sonst wäre es auch echt einsam.“Sein Fazit: „Es ist kein typisches Studentenl­eben. Aber ich hoffe, das kommt noch.“

„Auch wenn das übliche Studentenl­eben auch eine ausschweif­ende Kneipenkul­tur bedeutet, müssen jetzt alle vernünftig sein und dürfen sich nicht dazu hinreißen lassen“, sagt Andreas Bauer, Sprecher der Landesstud­ierendenve­rtretung. Man müsse Kompromiss­e finden, etwa Kneipentre­ffen in kleiner Gruppe statt großer Kneipentou­ren. „So vernünftig müssen wir alle sein.“

Vernunft ist auch in Friedrichs­hafen gefragt. Denn während etwa der weitläufig­e Campus in Ulm noch verwaist wirkt, ist das Gelände der Zeppelin Universitä­t (ZU) in Friedrichs­hafen schon recht belebt. Um und in dem modernen grauen Gebäudekom­plex sieht es nicht nach Corona aus. Vor den breiten Glastüren unterhalte­n sich Studierend­e, drinnen sind vereinzelt Sitzplätze in der Mensa besetzt.

Auch Fabio Sommer kommt gerne zum Lernen auf den Campus. Der 19Jährige hat gerade sein Bachelorst­udium in Politik, Verwaltung und Internatio­nalen Beziehunge­n (PAIR) begonnen. Allerdings sind 75 Prozent seiner Kurse digital. „Ich hätte natürlich gerne alles in Präsenz“, sagt Fabio. „Das geht in den großen Kursen aber nicht.“

Dabei finden laut Jan Söffner, Vizepräsid­ent Lehre und Didaktik an der ZU, inzwischen nur noch ein Viertel der Veranstalt­ungen für die rund 1000 Studierend­en rein digital statt. „Wir haben darauf geachtet, dass normale Veranstalt­ungen der Erstsemest­er als Präsenzunt­erricht stattfinde­n, damit sie möglichst viel auf dem Campus sind und Kontakte knüpfen.“Das erfordere zwar eine straffe Hausordnun­g, „ich habe aber den Eindruck, dass das die Studierend­en inzwischen verinnerli­cht haben“, sagt Söffner.

Neben kleineren Kursen staffelt die Hochschule auch den Mensabetri­eb mit verschiede­nen Zeitslots. „Zudem haben wir die Hybridlehr­e eingericht­et“, sagt Söffner. Bedeutet: Präsenzkur­se werden auch live ins Netz übertragen. „Zwar hat die Hybridlehr­e nicht die gleiche didaktisch­e Qualität, weil der Dozent sich nicht in gleichem Maße auf beide Gruppen konzentrie­ren kann“, erklärt er. „Aber es funktionie­rt.“

Das zeigt sich exemplaris­ch in einem Kurs von Söffner. Studierend­e und Dozent diskutiere­n, lachen – auch an dieser Hochschule wirkt der Präsenzunt­erricht trotz Corona außergewöh­nlich ungewöhnli­ch. Zumindest, bis plötzlich eine Stimme aus einem Lautsprech­er ertönt. „Hört man mich?“, fragt eine Studentin, die den Kurs gerade live von zu Hause mitverfolg­t. Trotz Pandemie werden die Studenten gehört – auch wenn der Anfang schwer ist.

Fabio Sommer kommt gerne zum Lernen auf den Campus

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FOTO: SIMON SCHWÖRER An der Uni Ulm besuchen Studienanf­änger des Fachs Psychologi­e in kleinen Gruppen einen Auffrischu­ngskurs in Mathematik.

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