Studienwunsch: Hauptsache ankommen
Trotz Corona-Pandemie starten junge Erwachsene in der Region jetzt ins Studium – Warum für sie Präsenzunterricht eine entscheidende Rolle spielt
Das Studium beginnt dieser Tage durch die Hintertür. Denn der Haupteingang des Gebäudes der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in der Ravensburger Rudolfstraße ist für den Publikumsverkehr geschlossen. Und so hat es fast schon etwas Geheimnisvolles, erst durch den menschenleeren Hinterhof zu schlendern und dann über die Gebäuderückseite ins Innere zu huschen.
Drinnen wirken die Gänge wie ausgestorben, nur die Automaten für Cappuccino, Snickers und Cola-Mix surren vor sich hin. Klar, viele der rund 3700 Studenten der DHBW Ravensburg studieren im Moment online. In einem Seminarraum im Erdgeschoss ist allerdings etwas los: 21 Studienanfänger sitzen an Einzeltischen über ihre Aufschriebe gebeugt. Sie lauschen dem Vortrag von Studiengangsleiter Thomas Bauer im BWL-Studiengang Messe-, Kongressund Eventmanagement.
Mittendrin: Annika Rosemann. Sie ist fürs Studium aus Rüsselsheim (Hessen) nach Ravensburg gezogen. „Das war für mich schon eine Umstellung, weil das gewohnte soziale Umfeld nicht mehr da war“, sagt die 19-Jährige. Die Besonderheit: Ihr Jahrgang erhält im ersten Semester trotz der Corona-Pandemie reinen Präsenzunterricht. Das ist an der DHBW längst nicht in allen Fächern der Fall. Annika ist froh, dass sie keine Onlinekurse hat. „Da hätte ich mich zu Hause vor dem PC richtig alleine gefühlt.“
Das geht nicht nur Annika so. Für viele junge Erwachsene bedeutet das Studium das erste Mal, dass sie weg sind von Freunden, von Vertrautem, vom Zuhause. Rein in eine neue Stadt, erwachsen werden, neue Kontakte knüpfen. Als wäre das nicht schon schwer genug, kommt jetzt noch die Corona-Pandemie dazu. Statt ausgelassener Partys mit neuen Freunden heißt es für sie jetzt: Hauptsache irgendwie in der ungewohnten Umgebung ankommen.
Ein Ausnahmezustand, der sich auf die Psyche der jungen Erwachsenen auswirken kann. „Wir gehen davon aus, dass gerade die mit der Corona-Pandemie verbundene, teilweise fundamentale Unsicherheit für Studierende dazu führen kann, dass sie die psychologische Beratung nachfragen“, sagt Achim Meyer auf der Heyde, Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks. Um dem entgegenzusteuern, versuchen Hochschulen in der
Region verstärkt, Erstsemestern mit Präsenzunterricht zumindest ein bisschen Starthilfe zu geben.
Denn: „Für Studierende, die introvertierter, schüchterner, depressiver sind, ist der Wegfall des studentischen Lebens oft katastrophal, da es nicht mehr zu den Begegnungen im Alltag kommt, sei es im Seminar, auf den Gängen der Hochschulen, den Bibliotheken und insbesondere in den Mensen“, sagt Reinhard Mack. Er leitet die Psychotherapeutische Beratungsstelle (PBS) bei Seezeit Studierendenwerk Bodensee. 2019 beriet die Stelle mehr als 900 Studierende der Hochschulen in Konstanz, Weingarten, Ravensburg und Friedrichshafen.
Häufig hätten die Studierenden gleich mehrere Probleme: etwa Prüfungsangst, Arbeitsorganisation, depressive Verstimmungen oder Probleme mit den Eltern. Diese Themen hätten sich jetzt verdichtet, sagt Mack. Er glaubt: „Diese krisenhafte Entwicklung und Problemzunahme könnte auch im Wintersemester anhalten.“
Denn durch die Pandemie brach im vergangenen Sommersemester für Studierende die Struktur ihres Alltags weg. Sie mussten sich selbst organisieren. „Das fiel vielen schwer“, sagt Mack. „Das Zimmer wurde zum einzigen Arbeitsplatz, die Trennung von Studium und Freizeit wurde immer problematischer.“Online-Angebote seien nur ein schwacher Ersatz für den benötigten sozialen Austausch.
Fehlende persönliche Kontakte sind aber nur ein Aspekt der Pandemie. Auch auf die Zahl der Studienanfänger hat sie offensichtlich in manchen Branchen negative Auswirkungen. Hatte der DHBW Bachelorstudiengang Messe-, Kongress- und Eventmanagement in Ravensburg im vergangenen Jahr noch 120 Erstsemester, sind es zum aktuellen Wintersemester nur noch 75. „In manchen Branchen ist das in diesem Herbst ganz klar coronabedingt“, sagt DHBW-Sprecherin Elisabeth Ligendza. Ohne Messen und Großveranstaltungen liege diese Branche momentan am Boden. Beunruhigt war darum auch DHBW-Studentin Annika Rosemann: „Ich hatte Angst, dass mir mein Unternehmen kündigen könnte, bevor ich überhaupt anfange zu studieren. Das ist wohl ein paar Leuten passiert.“
Doch bei Annika hat es mit dem dualen Studienplatz geklappt. Jetzt will sie sich auch mithilfe des Präsenzunterrichts gut in Ravensburg einleben. Laut Reinhard Mack ist gerade für Erstsemester ein möglichst breites Angebote an Kursen vor Ort wichtig. „Sie werden sonst kaum Fuß fassen oder gleich vom Elternhaus aus online studieren, was eine Integration in die Hochschulen enorm erschwert.“
Genau das plant Till Forstmeier. Der 20-jährige Günzburger (Bayern) beginnt zum Wintersemester sein Bachelorstudium in Psychologie an der Universität Ulm. „Ich pendle, weil ich noch nicht sicher bin, wie viele Onlinekurse wir haben“, erklärt er. Zwar startet in Ulm das Wintersemester erst Anfang November, Till besucht aktuell aber bereits einen Auffrischungskurs in Mathe. Im vergangenen Halbjahr nahm er zudem bereits an einem digitalen Orientierungssemester
in Ulm teil. „Das war anstrengend, digital fehlten mir die Konzentration und die Disziplin.“In seinem Wunschstudiengang Psychologie will er jetzt trotzdem durchstarten: egal ob online oder vor Ort: „Da versuche ich mich reinzufuchsen.“Wichtig ist Till allerdings, seine Mitstudenten kennenzulernen. „Das ist auch ein Punkt, warum ich das Mathecamp mache.“
Rund 10 000 Studierende sind an der Universität Ulm eingeschrieben. Matthias Klepsch leitet dort die zentrale Studienberatung. „Bei den Erstsemestern lautet das Credo: viel in Präsenz“, sagt er. Das gelte auch für die vielen Kennenlernveranstaltungen. Lernflächen und Bibliothek am Campus seien zudem wieder geöffnet. „Denn gerade in den unteren Semestern ist für den Studienerfolg wichtig, dass man sich miteinander vernetzt.“
Die Erfahrungen aus dem digitalen Sommersemester zeigen laut Klepsch, dass vielen Studierenden rein digitales Lernen schwerfalle: „Wir versuchen das durch LearnCoachings
mit Fokus auf digitales Lernen auszugleichen.“
Trotzdem brauche es gerade für Studienanfänger ein vernünftiges Angebot an Präsenz, „da der Austausch untereinander elementar für ein Studium ist“, sagt Andreas Bauer, Sprecher der baden-württembergischen Landesstudierendenvertretung. „Schließlich haben sich die Studierenden bewusst nicht für ein Fernstudium entschieden.“Jedoch will Bauer keinen Mindestanteil an Präsenzkursen fordern. Denn die Notwendigkeit hänge stark von den jeweiligen Fachrichtungen ab. In Bezug auf das neue Semester bemängelt er allerdings die Kommunikation und Transparenz mancher Hochschulen im Land: „Viele Studierende wissen nicht, was auf sie zukommt.“
Auch die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung Konstanz (HTWG) startet mit ihren gut 4900 Studierenden in ein Hybridsemester aus Onlineangeboten und Veranstaltungen vor Ort. Den knapp 700 Erstsemestern sollen laut HTWG-Präsidentin Sabine Rein bevorzugt teilweise Präsenzveranstaltungen ermöglicht werden, „um ihnen den erfolgreichen Einstieg ins Studium zu erleichtern“. Jedoch habe das zurückliegende Semester gezeigt, dass die praxisorientierte Lehre der Hochschule auch online möglich sei. Laut Hochschulsprecher Adrian Ciupuliga sollen aber auch Kurse, die üblicherweise im Labor oder in Werkstätten stattfinden, bevorzugt wieder auf dem Campus unterrichtet werden. Die HTWG wolle allen Studierenden die Möglichkeit geben, sich frühzeitig im Studium zu vernetzen. Durch Abstandsgebote und Hygienemaßnahmen stünden aber geringere räumliche und personelle Ressourcen zur Verfügung.
Herausforderungen, vor denen auch die Universität Konstanz steht. Dennoch will sie im Wintersemester wieder Vorlesungen vor Ort ermöglichen – besonders für Studienanfänger. Dennoch schränkt Sprecherin Tullia Giersberg ein: „Sicher ist dabei schon jetzt, dass der größte Teil der Lehre wieder digital stattfinden wird.“
Die Vorlesungen für die rund 11 300 Studierenden beginnen an der Universität am 2. November. „Wie das Wintersemester ablaufen wird, hängt entscheidend von der weiteren Entwicklung des Infektionsgeschehens ab“, sagt sie. Durch diese Unsicherheit müsse mit digitaler und Präsenzlehre zweigleisig geplant werden. „Nicht jede Lehrveranstaltung kann digital gleichwertig durchgeführt werden. Gerade bei diskussionsintensiven Seminaren oder praktischen Übungen müssen Einschränkungen in Kauf genommen werden“, erklärt sie.
Von einem Mix aus Präsenz- und Onlineveranstaltungen für die knapp 360 000 Studierenden in BadenWürttemberg geht das Landesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst (MWK) aus. Eine Sprecherin erklärt, die aktuelle Situation sei insbesondere für die Erstsemester schwierig. „Deshalb arbeitet die Landesregierung gemeinsam mit den Hochschulen intensiv daran, neben den digitalen Formaten zunehmend wieder Präsenzveranstaltungen zu ermöglichen.“
So wie das Mathecamp an der Uni Ulm. Dort kritzelt derweil Tutorin
„Das war für mich schon eine Umstellung, weil das gewohnte soziale Umfeld nicht mehr da war.“Annika Rosemann ist von Rüsselsheim nach Ravensburg umgezogen
„Ich hätte natürlich gerne alles in Präsenz, das geht in den großen Kursen aber nicht.“
Noemi Berliner geduldig mit Kreide an die Tafel, was es mit Wurzeln, dem Logarithmus und Potenzrechenregeln auf sich hat. Matheunterricht, wie man ihn sich vorstellt – wenn auch nur mit 13 Teilnehmern und Abständen zwischen den Tischen. Auch Student Noah Grützner ist froh darüber, über den Mathekurs Leute kennenzulernen. Der 18-Jährige kommt aus der Nähe von Saarbrücken (Saarland). Das Einleben falle ihm momentan noch etwas schwer. Im Wohnheim seien alle Gemeinschaftsräume geschlossen, durch die Pandemie sei auch partymäßig nicht viel los. Mit seinen Kommilitonen habe er in kleinen Gruppen aber schon etwas unternommen. „Sonst wäre es auch echt einsam.“Sein Fazit: „Es ist kein typisches Studentenleben. Aber ich hoffe, das kommt noch.“
„Auch wenn das übliche Studentenleben auch eine ausschweifende Kneipenkultur bedeutet, müssen jetzt alle vernünftig sein und dürfen sich nicht dazu hinreißen lassen“, sagt Andreas Bauer, Sprecher der Landesstudierendenvertretung. Man müsse Kompromisse finden, etwa Kneipentreffen in kleiner Gruppe statt großer Kneipentouren. „So vernünftig müssen wir alle sein.“
Vernunft ist auch in Friedrichshafen gefragt. Denn während etwa der weitläufige Campus in Ulm noch verwaist wirkt, ist das Gelände der Zeppelin Universität (ZU) in Friedrichshafen schon recht belebt. Um und in dem modernen grauen Gebäudekomplex sieht es nicht nach Corona aus. Vor den breiten Glastüren unterhalten sich Studierende, drinnen sind vereinzelt Sitzplätze in der Mensa besetzt.
Auch Fabio Sommer kommt gerne zum Lernen auf den Campus. Der 19Jährige hat gerade sein Bachelorstudium in Politik, Verwaltung und Internationalen Beziehungen (PAIR) begonnen. Allerdings sind 75 Prozent seiner Kurse digital. „Ich hätte natürlich gerne alles in Präsenz“, sagt Fabio. „Das geht in den großen Kursen aber nicht.“
Dabei finden laut Jan Söffner, Vizepräsident Lehre und Didaktik an der ZU, inzwischen nur noch ein Viertel der Veranstaltungen für die rund 1000 Studierenden rein digital statt. „Wir haben darauf geachtet, dass normale Veranstaltungen der Erstsemester als Präsenzunterricht stattfinden, damit sie möglichst viel auf dem Campus sind und Kontakte knüpfen.“Das erfordere zwar eine straffe Hausordnung, „ich habe aber den Eindruck, dass das die Studierenden inzwischen verinnerlicht haben“, sagt Söffner.
Neben kleineren Kursen staffelt die Hochschule auch den Mensabetrieb mit verschiedenen Zeitslots. „Zudem haben wir die Hybridlehre eingerichtet“, sagt Söffner. Bedeutet: Präsenzkurse werden auch live ins Netz übertragen. „Zwar hat die Hybridlehre nicht die gleiche didaktische Qualität, weil der Dozent sich nicht in gleichem Maße auf beide Gruppen konzentrieren kann“, erklärt er. „Aber es funktioniert.“
Das zeigt sich exemplarisch in einem Kurs von Söffner. Studierende und Dozent diskutieren, lachen – auch an dieser Hochschule wirkt der Präsenzunterricht trotz Corona außergewöhnlich ungewöhnlich. Zumindest, bis plötzlich eine Stimme aus einem Lautsprecher ertönt. „Hört man mich?“, fragt eine Studentin, die den Kurs gerade live von zu Hause mitverfolgt. Trotz Pandemie werden die Studenten gehört – auch wenn der Anfang schwer ist.
Fabio Sommer kommt gerne zum Lernen auf den Campus